Der Koffer
Knacken und Kratzen und Quietschen der versehrten Oberfläche, aber sie hat keinen Plattenspieler. Ihre Eltern hatten einen Plattenspieler. Im Schrank unterm Fernseher. Und Schallplatten daneben, von Frank Schöbel und Chris Dörk, von Sandra Mo und Jan Gregor, von Adamo. Der Plattenspieler wurde nie benutzt. Er war kaputt, hieß es.
Sonnie legt die Platte weg.
Eine herausgerissene Seite aus einem Buch, Trompeter, trompetende Männer, Fotos und Text. Sonnie hört manchmal Musik. Sie gefällt ihr, oder sie gefällt ihr nicht. Sie stellt das Radio lauter, oder sie stellt es ab. Das ist alles. Sie hat keine Ahnung von Musik. Sie hört Musik, wenn irgendwo Musik gespielt wird, sie mag sie, sie mag sie nicht, aber sie versteht sie nicht. Musikverstehen ist eine männliche Wissenschaft.
This is what they call classical music, isn’t it? … I can tell because there’s no vocal.
Sonnie wird von Wehmut erfasst, weil ihr Musik immer ein Rätsel bleiben wird, weil der Großvater totist, weil die Mutter tot ist, weil der Koffermensch tot ist, bestimmt ist er tot, und wer weiß, wo Rhett ist, und wer weiß, wie lange sie selbst noch lebt.
Behördenpost von 1973, Schriftstücke, bekleckerte Rechnungen, ein Männername, den sie wieder vergisst. Ein Zettel, liniert, gefaltet, vergilbt, Kinderschrift. Cher Papa, lieber Papa, übersetzt Sonnie, dann verlässt sie ihr Französisch. Dabei hat sie in der Schule Französisch gehabt. Wo ist das nur hin? Wo ist nur mein Leben hin?, denkt sie und steckt den Zettel in ihre Handtasche.
Rhett stürzt zu den Schaltknöpfen und starrt sie an. Er will ihnen Logik abringen. Der Hebel. Gong bewegt immer den Hebel, bevor er Knöpfe drückt. Oder danach? Aber den Hebel bewegt Gong, das glaubt Rhett zu wissen. Doch der Hebel ist verkantet. Er gibt keinen Millimeter nach. Rhett drückt aufs Geratewohl zwei Knöpfe, einen roten und einen schwarzen. Nichts.
Rhett drückt alle Knöpfe.
Rhett schlägt auf die Knöpfe.
Mit der flachen Hand.
Mit der Faust.
»Ich hab’s heraufbeschworen«, murmelt Rhett. Er hatte sich’s ausgemalt, immer und immer wieder, hunderttausendmal. Er wusste nie, wie es passieren wird und wann, aber dass es passieren wird, war ihm klar. Vollkommen unsinnig war die Hoffnung, davonzukommen.
Er wirft sich mit dem ganzen Körper gegen die Armatur. Ein Witz. Er prellt sich die Schulter. Wenn er einFilmheld wäre, würde er die Tür einrennen, mit einem Tritt zum Bersten bringen, das Schloss aufschießen. Vielleicht würde er auch geheime Luken finden und sich abseilen, mit spielerischer Leichtigkeit.
Er zieht seinen Schuh aus und drischt ihn gegen die Gitterstäbe. Gong gurgelt. Aus seinem Mund tritt mehr schaumige Flüssigkeit aus. Rhett zerrt seinen Trenchcoat unter Gong hervor, wühlt in den Taschen, zieht den Wohnungsschlüssel heraus. Er klopft mit dem Schlüssel gegen die Gitterstäbe. »Ich hab’s gewusst«, murmelt Rhett. Er murmelt es wieder und wieder. Wenn jetzt das Leben an ihm vorbeizieht, denkt er, dann ist der Tod nah. Tatsächlich sieht Rhett Bilder. Aber es scheinen nur die peinlichen Momente seines Lebens zu sein, die sich aneinander reihen. Bettnässerei, beim Onanieren erwischt, verdroschen werden, eingesperrt sein, spannen durch Schlüssellöcher, ein Rotlichtviertel in Bangkok, verschweigen, versagen, übel riechen …
Gab es nichts als peinliche Momente? War sein Leben so ein Rattenschiss? Rhett atmet schwer. Er fragt sich, ob er stinkt. Er prüft permanent, ob er stinkt. Nach Schweiß, nach Dreck, aus dem Mund, aus dem Arsch. Es gibt so viele Möglichkeiten zu stinken. Und wenn man bedenkt, wie viele Leute stinken, warum soll er dann nicht stinken? Und wenn man bedenkt, wie viele Leute lügen, wer sollte ihm jemals die Wahrheit sagen?
Der Fahrstuhl stöhnt auf und sackt einen Meter tiefer. Und da kann Rhett ihn riechen, den Gestank der Angst.
Ein Blitz gießt stahlblaues Licht in den Raum. Sonnie stemmt sich gegen das Schiebefenster. Erst gibt es nicht nach. Dann doch. Leise gleitet es nach oben. Kühle Nachtluft fährt ihr in die Lungen. Sonnie zählt. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Kein Donner.
Das Leben ist kurz, denkt sie. Das Leben ist zu still. Ihr Leben ist zu still. Ihr Leben ist Warten auf Donner. Es ist, als hätte draußen jemand New York ausgeschaltet. Sie hält die Luft an, lauschend, so lange, bis im Haus ein metallenes Klopfen zu hören ist. Sie ist nicht allein. Ein Umstand, der sie beruhigt.
»Hallo«, ruft
Weitere Kostenlose Bücher