Der Koffer
Lendenschurz, ein halb verwestes Menschenbein. Stattdessen nur Unrat. Müll anderer Leute. Kakerlakeneier, Kakerlakenleichen. Rhett hat Recht. Rhett hat immer Recht.
Sie greift nach dem Haargummi, den sie ums Handgelenk trägt. Sie knebelt ihre Haare damit am Hinterkopf zusammen. Sie leert das Glas mit großen durstigen Schlucken und füllt es gleich nach. Sie rafft ihr fusseliges schwarzes Hauskleid, von dessen Aufdruck »I love New York more than ever« nur noch »York … ever« übrig geblieben ist.
Sie betastet die Dinge, die einst jemandem wichtig gewesen waren und dann so unwichtig geworden waren, dass er den Koffer auf die Straße gestellt hatte. Oder jemand anders hatte den Koffer auf die Straße gestellt.Vermutlich eine Frau. Es sind wir, die Dinge wie diese schnell und reibungslos erledigen, denkt Sonnie. Sie hat einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie spült ihn mit saurem Wein weg.
Sonnie beugt sich über den Koffer. So verharrt sie. Zeit vergeht. Sonnies Füße schlafen ein, sie merkt es nicht. Es sind nicht die Dinge an sich, es sind nicht die Gegenstände selbst, es sind die Erinnerungen, die sie freisetzen. Es ist der scharfe Duft der Erinnerung.
Sonnie assoziiert mehr, als sie erkundet. Der Inhalt des Koffers führt sie vom Besitzer des Koffers weg und hinein in sich selbst. Sie legt fast mechanisch eine zerlesene Bibel beiseite, einen halbblinden versilberten Handspiegel mit Keulengriff, eine schwarze Billardkugel. Bei Dingen, die sie an nichts erinnern, bleibt ihre Annäherung äußerlich, wie die einer Putzfrau, die Nippes abstaubt und zurück in die Vitrine stellt.
Ein Programm vom Moulin Rouge in Paris, nass geworden, die Seiten gewellt, aneinander hängend, kellerklamm. Paris – das ist für sie Der letzte Tango , Der eiskalte Engel, Außer Atem, Zazie . Paris – das ist die Erinnerung an eine Woche Hotel in Saint Germain des Prés, ein kleines Hotelzimmer, in dem Rhett und sie wie Karnickel rammeln, ausgedehnte Spaziergänge, Blasen an den Füßen, Metro statt Auto, Rotwein, Küsse, viele Küsse, wunde Lippen, wunde Nippel, wunde Innereien. Paris – das ist ihr Heiratsantrag und Rhetts Nein.
Sie löst die Seiten des Programms voneinander, ohne darin zu blättern. Es riecht verschimmelt.
Der Keller. So roch der Keller ihrer Großmutter, in den sie sie oft geführt hatte, mit kleinen schlurfendenSchritten, um ihr Fallobst in die Hände zu drücken und klebrige Gläser selbst eingemachten schwarzen Pflaumenmuses. Beides warf Sonnie draußen in den Müll, denn sie mochte kein klebriges Pflaumenmus, keine schrumpeligen Äpfel, und die noch schrumpeligere Großmutter schon gar nicht. Es schien ihr damals ungerecht, dass die Großmutter, die wie eine Sterbende umherschlich, immer noch lebte, während der Großvater gestorben war. Dabei war er so stark und kräftig gewesen. Und er war Sonnies Freund gewesen. Das Versprechen des Lebens war eingehalten im knorrigen Großvater, der wie ein Holzfäller lief, wie ein Nussknacker aß, der zeitlos schien, unendlich, unsterblich. Sonnie versucht, sich an sein Gesicht zu erinnern.
Sonnie hockt auf dem Boden.
Sie riecht die betäubende Süße von Eingemachtem.
Die Niedertracht der Welt wird ihr bewusst, die der Jugend insbesondere.
Ihr Herz zieht sich zusammen. Sie schämt sich.
Ohne das Taschentuch hätte sie sich vielleicht nie wieder an den Großvater erinnert. Und warum ist sie auf einmal so sentimental, dass sie weinen könnte?
Sonnie weiß, dass sich weder ihr Gesichtsausdruck noch ihre Haltung geändert haben, während sie sich in den letzten Minuten erinnert hat, geschämt hat, wütend war, sentimental war. Das ist es, was Menschen zur Verzweiflung bringen sollte, denkt sie, dass keiner dem anderen ansehen kann, was vorgeht. Kein Mensch weiß, was in einem anderen Menschen vorgeht. Sie denkt an Rhett mit seinem klugen, schwermütigen Pokerface, das er nur verliert im Moment des Orgasmus.Dann wird sein Gesicht weit und klar, erstarrt wie im freudigen Schreck, mit erhobenen Brauen. Wie ein Clown sieht Rhett aus in jenen Sekunden, mit weit aufgerissenen Augen, Nüstern, Mund. Das ist ein Rhett-Gesicht, das nur ihr gehört.
Sie hält eine Schallplatte in der feuchten Hand, schmierig, stark zerkratzt, tausendmal gespielt, Rachmaninoff, das 2. und das 3. Klavierkonzert. Sie würde die Platte jetzt gern hören, auf einen Plattenteller legen, sie würde den Tonarm gern mit zwei Fingern aufs Vinyl aufsetzen, das leise Knistern hören, das
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