Der Koffer
Sie wählt Joys Nummer, die sie auswendig kann. Der Anrufbeantworter springt an. »Niemand da. Nachrichten für Joy Johanson und Rhett Montiel nach dem Beep.«
Zorn packt Sonnie. Sie denkt daran, wie sie einmal einen Karpfen töten musste, weil Jake es nicht fertig gebracht hatte. Dann stößt sie die Messerspitze unter den ersten Schnappverschluss. Das Zimmer wird heller, als der Koffer sein Geheimnis preisgibt.
We can’t see what’s inside, but a small glow emits from the case.
Rhett starrt auf die schwarzen staubigen Gitter der Fahrstuhltür. Gong schließt sie mit resolutem Ruck.
Nicht unterbuttern lassen.
Schwester Cäcilia hat ihm das eingebläut. Du darfst dich nicht unterbuttern lassen. Nie. Das war einer ihrer beiden Lebensratschläge gewesen. Der andere war:
Big boys don’t cry.
Gong drückt den Knopf. Der Fahrstuhl fährt an. Dabei hab ich mich selbst bestraft, denkt Rhett. Es war falsch. Es ist kindisch. Er sollte zurückgehen. Schließlich wohnt er auch da. Nicht die Kakerlaken haben ihn vertrieben, nicht Sonnies Dickkopf, nicht ihr Hang zum Unrat. Es ist ihr Hunger auf Neues, der ihn kränkt. Ihr Hunger auf Neues hat sie zusammengebracht. Nun ist er nicht mehr neu. Nun muss Abwechslung her. Ein Koffer!
»Sie will den Abend lieber mit einem Koffer verbringen als mit mir«, murmelt Rhett.
Im selben Moment verliert Gong die Spannung. Es ist, als ließe jemand die Luft aus ihm heraus, als schmölze seine kompakte Ingwerknollen-Statur. Gong reißt die Augenschlitze auf. Er verdreht sie. Er verdreht sich. Sein flaches Gesicht kracht in die Fahrstuhlarmatur.
Mit einem Ruck stoppt der Fahrstuhl. Rhett wird gegen die Wand geschleudert. Er fällt auf den Hinterkopf. Er verliert das Bewusstsein. Als er erwacht, starrt er in Gongs verquollene Augen. Der Chinese liegt auf ihm mit der Endgültigkeit eines Erdhaufens. Schaum tropft aus Gongs Mund in Rhetts Gesicht.
Rhett schreit. Er strampelt. Er wirft den leblosen Körper ab. Er schüttelt sich. Er schnappt nach Luft, aber es ist nicht genug da.
Es stinkt nach Schmieröl, nach Angstschweiß, nach verbranntem Gummi und nach Benzin. Er ist ein Kind. Da ist der Rumpf der Mutter. Die Umrisse des durch die Scheibe geschleuderten Vaters, seine blutigen Hände. Erwischt Gesicht und Hände am Trenchcoat ab. Rhett hat ein halbes Dutzend Therapeuten verschlissen und zwei Dutzend Freundinnen, ohne das Bild aus seinem Kopf zu kriegen.
Er hat Angst vor Bakterien. Er hat Angst vor Enge. Er hat Angst vor Blitzlichtern.
Er träumt alle Formen von Todesarten. In seinen Albträumen zertrümmert ein Stein seinen Schädel. Ein Windstoß schleudert ihn unter die Subway. Er wird von Stromschlägen durchzuckt, überrollt, zerquetscht. Er wird gehängt, geköpft, erstochen, erschossen. Er fällt aus einem Fenster und zerschellt auf dem Asphalt. Er gerät in eine Industriemaschine, die seine Gliedmaßen amputiert. Er wird bei lebendigem Leib aufgeschlitzt und ausgeweidet. Er kennt den Tod, und er will ihn nicht kennen. Er trifft den Tod an jeder Straßenecke, aber er grüßt ihn nicht. Er hat panische Angst vorm Tod. Er flieht den Tod in allen Erscheinungsformen. Er denkt nicht an den eigenen, liest nicht über den anderer, in seinem Wachzustand gibt es keinen Tod. Einmal hat er einen in die Jahre gekommenen Playboy, der einen weißen Anzug trug, sagen hören: »Meine Lebensdevise? No bad news!« Das fand Rhett schlüssig. So will er das Leben. Gegen Träume ist er machtlos, seine Realität kann er kontrollieren.
No bad news.
Dachte er.
Und nun das. Nun hat dieser Chinamann … ausgerechnet jetzt … Es muss etwas Schlimmes sein. Gong liegt merkwürdig verrenkt da. Rhett zieht den Trenchcoat aus. Er stopft ihn unter Gongs Rücken. Was soll ertun? Was macht man in einer Situation wie dieser? Er ruft. Sein Ruf verhallt ungehört. Die Fahrstuhlarmatur ist chinesisch beschriftet. Ihr Geheimnis hat Gong immer streng gehütet, hat sich dicht davor gestellt, bevor er die Register zog. Nun würde sein Herrschaftswissen ihn das Leben kosten. Es ist Freitagabend. Dies ist ein Bürogebäude. Rhett ist mit einem sabbernden chinesischen Mehlsack im Fahrstuhl eingesperrt.
Rhett ruft.
Gong röchelt.
Nacktes schwarzes Vinyl, Knüllpapier, Briefe, Bücher. Irgendwo im Haus hat es gekracht. Sonnie gießt Weißwein ins Glas. Sie betrachtet den Kofferinhalt. Sie hat einen Schatz erwartet. Sie hat einen Schatz verdient. Geldscheine, Goldbarren, Juwelen, CIA-Dossiers, einen Djinn im
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