Abgründe (German Edition)
-2-
Die Nacht war sternenklar und lauwarm. Ames schloss für einen Moment die Augen und lauschte dem Meeresrauschen. Es klang so gleichmäßig wie der Motor einer Maschine und er musste sich zwingen, die Lider zu öffnen, um nicht einzuschlafen.
Widerwillig stieg er aus dem Wagen, schmeckte die salzige Luft und fragte sich, wie viele Pärchen sich heute Nacht am Strand verabredet hatten, um es dort zu treiben. Dann presste er beide Hände gegen die Fensterscheibe und schenkte seiner Beifahrerin, die noch im Auto saß, ein charmantes Lächeln. Ihre Züge blieben unbewegt. Er seufzte. Schade, schade.
Als er die Beifahrertür öffnete, musste er seine Begleitung an den Schultern stützen, damit sie nicht vom Sitz kippte. Dann packte er sie unter beiden Achseln und hob sie aus dem Wagen. Sie war schwer und half nicht mit. Nie halfen sie mit. Gemeinsam gingen sie zu einer Bank, wobei sie einen ihrer hochhackigen Schuhe verlor, weil ihre Füße grotesk verdreht über den Boden schleiften. Das Geräusch, das sie dabei verursachten, raubte Ames den letzten Nerv. Zum Glück war es nicht weit.
Er ließ die Frau, die für heute Nacht seine Freundin war, auf die Bank sinken. Ihre weit geöffneten Augen sahen ihn fragend an. Vielleicht würde sie ihm eine Frage stellen, wenn sie könnte, doch er hatte ihre Lippen fest zusammengeklebt. Er legte ihr die Hände gefaltet in den Schoß und ordnete das kinnlange Haar, dann trat er einen Schritt zurück. Das Mondlicht spiegelte sich in der goldenen Kette um ihren schlanken Hals wider. Ames fand sie wunderschön. Ein Meisterwerk.
Eine Weile stand er einfach nur da, genoss den sanften Luftzug an seinen bloßen Unterarmen und betrachtete die junge Frau, deren Gesichtzüge einmal fein und hübsch gewesen waren. Er wusste, dass er sich bald von ihrem Anblick lösen musste. Nicht weiter schlimm. Spätestens morgen würde in allen Zeitungen über sie berichtet werden.
Außerdem war sein Werk noch längst nicht vollendet, sagte er sich und sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken an all die wundervollen, blutigen Dinge, die noch vor ihm lagen. Ein Grinsen huschte über seine Züge, dann wandte er sich ruckartig ab und ging los. Den Wagen würde er stehen lassen, er brauchte ihn nicht mehr.
-3-
Im Morgengrauen holte das Klingeln seines Handys Ethan aus einem wirren Traum. Er drehte sich zum Nachttisch um und tastete schlaftrunken nach dem Mobiltelefon.
»Hayes?« Er gähnte und hielt sich die Hand vor dem Mund, während ihm vom anderen Ende der Leitung eine wohlbekannte und viel zu laute Stimme entgegen schallte.
»Detective Hayes, hier ist Ihr Weckruf!« Am Apparat war unverkennbar Donovan Caulfield, Ethans Partner. Er konnte selbst schlechte Nachrichten überbringen, als lese er den Wetterbericht vor. »Am besten bewegst du deinen Hintern schnellstens runter zum Strand, Kumpel!«
Als Ethan klar wurde, was diese Aufforderung bedeuten musste, war er schlagartig hellwach. Während er die dünne Decke von sich schlug und die Beine aus dem Bett schwang, redete Donovan munter weiter.
»Wir haben hier eine weitere Leiche. Die Presse hat schon wieder Wind von der Sache bekommen und hier ist die Hölle los.«
Ethan konnte sich lebhaft vorstellen, was sich am Fundort abspielte und der Lärm, den er im Hintergrund hörte, bestätigte seine Befürchtungen.
»Warum werde ich erst jetzt informiert?«
»Maul nicht rum, sieh lieber zu, dass du herkommst! Du kannst an der Atlantic Avenue, Ecke Einunddreißigste parken und dann folgst du einfach den Übertragungswagen zur Neptunstatue.«
Ethan stand auf und tappte in Unterhose zum Bad. Währenddessen berichtete ihm Donovan, dass es sich bei der Getöteten vermutlich um Ava Draper, eine Reinigungskraft aus Green Run, handelte. Zwei junge Touristinnen hatten sie auf dem Rückweg von einer Party entdeckt und sich über ihre leblose Erscheinung gewundert – zu Recht.
»Ich springe schnell unter die Dusche, dann bin ich da.« Er beendete das Gespräch und legte das Handy für den Fall der Fälle auf dem Waschtisch gleich neben der Duschkabine ab. Dann stellte das kalte Wasser an, um seinen Kreislauf auf Touren zu bringen. Es würde ein langer Tag werden.
Als er kurz darauf in die Küche kam, erwartete ihn dort bereits sein Sohn Haley, der auf der Fensterbank saß und konzentriert auf seinen Laptop starrte. Seit seinem Einzug war das Fenster in der Küche so was wie sein Lieblingsplatz. Man hatte von dort aus einen Blick auf die
Weitere Kostenlose Bücher