Der Kojote wartet
ihn immer wieder die Gründe für Dr. Bourebonettes Anwesenheit. Sie kannte Pinto offenbar. Sie sagte, daß sie den alten Mann mochte, daß sie mit ihm zusammengearbeitet habe. Aber wer in Flagstaff arbeitete, mußte viel Zeit und Mühe aufwenden, um hierher zu kommen. Und sie schien bereit, das Honorar eines Privatdetektivs allein zu übernehmen.
»Arbeiten Sie noch mit Hosteen Pinto zusammen?« fragte er sie. »Jetzt im Augenblick, meine ich. An einem aktuellen Projekt?«
Die Professorin nickte. »Wir waren mit den Recherchen zu einem Buch beschäftigt.«
»Über vergleichende Mythologie?«
»Über den Wandel des Hexenglaubens«, antwortete Bourebonette. »Es war Ashie Pinto selbst aufgefallen. Wie die Geschichten sich seit seiner Kindheit verändert hatten. Er hat mich nach Albuquerque begleitet, und wir haben uns dort die Tonbandaufnahmen angehört... «
Sie machte eine Pause - und schien dann noch eine Erklärung für nötig zu halten.
»Tonbandaufzeichnungen aus der Sammlung der University of New Mexico. Interviews mit alten Navajos. Und nicht nur mit Navajos, sondern auch mit Indianern anderer Stämme und alten Menschen aus dem spanisch-amerikanischen Kulturkreis. In den dreißiger und vierziger Jahren sind Erinnerungen aufgezeichnet worden, die bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichen. Und läßt man überlieferte Erinnerungen aus zweiter Hand gelten - sogenannte Großvatergeschichten -, reichen manche bis in die Zeit vor dem Langen Marsch zurück.
Wir haben uns diese Aufzeichnungen angehört, und Hosteen Pinto hat die Transkripte gelesen, um sich noch besser an die Geschichten aus seiner Kindheit erinnern zu können.«
Professor Bourebonette hatte ein verschlossenes Gesicht. Die einzigen Empfindungen, die Leaphorn bisher darin ausgemacht hatte, waren Ärger, Zweifel und Entschlossenheit: das Gesicht einer Frau, die es gewohnt war, sich durchzusetzen - und die bezweifelte, daß ihr das bei ihm gelingen würde. Jetzt hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert. Während sie über dieses Buch sprach, wirkte sie lebhaft und begeisterungsfähig.
Nun war Leaphorn davon überzeugt, Dr. Bourebonettes Motiv zu kennen.
»... wirklich bemerkenswert«, sagte sie eben, »woran Hosteen Pinto sich erinnern kann. Wie er selbst auf kleinste Nuancen in diesen alten Geschichten achtet. Zum Beispiel, wenn es um die Unterschiede in der Einstellung des Erzählers gegenüber den Hexen geht. Oder um Bedeutungsverschiebungen, wenn eine Variante von außerhalb des Kulturkreises der Navajos eingeführt worden ist. Beispielsweise aus der Hexentradition der Zunis, auf dem Umweg über die >Zwei-Herzen-Sage< der Hopis oder...« Dr. Bourebonette verstummte mitten im Satz. Sie wirkte verlegen.
»Sie haben noch mit Pinto zusammengearbeitet? Ihr Projekt war noch nicht abgeschlossen?«
»Mehr oder weniger. Ich sollte ihn später in dieser Woche abholen. In der Woche, in der's passiert ist. So habe ich erfahren, daß er verhaftet worden war. Ich hatte von dem Mord an einem Polizeibeamten gelesen, aber der Name des Täters war nicht bekanntgegeben worden. Ich bin also zu ihm hinausgefahren und habe von Mrs. Keeyani gehört, daß er im Gefängnis sitzt.«
Hinter Gittern, dachte der Lieutenant. Für die Fragen einer Professorin unerreichbar. Ein Buch, das vorläufig nicht fertiggestellt werden konnte. Das vielleicht nie abgeschlossen würde. Dr. Bourebonettes Motiv erschien ihm plötzlich weit weniger rätselhaft.
»Können Sie das Buch ohne ihn fertigschreiben?« erkundigte sich Leaphorn. Sein Tonfall war dabei so neutral wie irgend möglich. Aber Professor Bourebonette verstand ihn nur allzu gut. Ihre klaren blauen Augen erwiderten seinen Blick. »Natürlich«, sagte sie. Dann nickte sie. Er hatte recht, und sie mußte seinen unausgesprochenen Vorwurf akzeptieren. »Aber es wäre vielleicht weniger fundiert.«
Der Lieutenant sah weg, blätterte wieder in dem Bericht, war von ihrem Scharfsinn beeindruckt und fühlte sich leicht schuldbewußt. Hätte er Emma wie gewohnt von diesem Gespräch erzählt, hätte sie den Kopf geschüttelt und sein Verhalten mißbilligt. Jetzt suchte er die Antwort auf die von den beiden Frauen aufgeworfene logische Frage: Wie war der Alte vom Westrand des Reservats in die Nähe von Shiprock gekommen? Er konnte wenigstens versuchen, das für sie in Erfahrung zu bringen.
»Eigentlich ist es vor allem sein Buch gewesen«, sagte Dr. Bourebonette wie zu sich selbst.
Leaphorn blickte
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