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Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Titel: Der Kommissar und das Schweigen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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dass er das Verhör mit diesem Teenagermädchen am liebsten noch stundenlang weitergeführt hätte, aber ihm war klar, dass das nicht ging. Er musste Prioritäten setzen, das Wichtigste zuerst bedenken – später würde er sicher Gelegenheit dazu haben, in aller Ruhe die Schattenseiten des Reinen Lebens aufzudecken, wenn es dazu Zeit und Gelegenheit gab.
    »Jellinek«, sagte er stattdessen. »Weißt du, wo Oscar Jellinek ist?«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf.
    »Du weißt es nicht?«
    »Nein.«
    »Wann ist er verschwunden?«
    »Vorgestern.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Ja. Er war Montagmorgen nicht mehr da. Er ist abberufen worden.«
    »Abberufen?«

    »Ja.«
    »Was meinst du damit?«
    »Der Herr hat ihn zu sich gerufen, und er musste das Lager für ein paar Tage verlassen.«
    Sie trank ein wenig Coca Cola, und der Hauptkommissar schloss für zwei Sekunden die Augen.
    »Wann am Montag?«
    »Morgens. Er war beim Morgengebet nicht dabei. Schwester Ulriche leitete es stattdessen. Und dann haben sie erzählt, dass ihm nachts Gott erschienen ist und ihm einen Auftrag erteilt hat. Dass es wichtig wäre, dass wir stark in unserem Glauben waren und uns als rein und würdig erwiesen, solange er fort war ...«
    »Rein und würdig?«
    »Ja.«
    »Aha ...«, Van Veeteren horchte den Worten nach. »... und was bedeutet das?«
    »Ich verstehe nicht«, sagte Marieke Bergson.
    »Ich auch nicht«, sagte der Hauptkommissar. »Was tut man, um sich rein und würdig zu erweisen?«
    Die Psychologin hob warnend einen Finger, und Marieke Bergson sah plötzlich so aus, als wenn sie kurz vorm Weinen wäre. Sie knetete ihre Finger und betrachtete wieder ihre Schuhe. Van Veeteren wechselte eilig das Thema.
    »Wann hast du Jellinek das letzte Mal gesehen?«
    »Sonntag ... ja, Sonntagabend.«
    »Was habt ihr da gemacht?«
    »Das Abendgebet gebetet. Bevor wir ins Bett gegangen sind.«
    »Er hat nichts davon gesagt, dass er danach weg sein würde?«
    Marieke Bergson schaute auf, senkte aber gleich wieder ihren Blick.
    »Nein, es war mitten in der Nacht, dass er Gott traf, das habe ich doch gesagt ... aber Clarissa war ja verschwunden. Wir haben uns etwas gewundert, aber er hat kein Wort über sie gesagt.
Hat uns nur gesagt, dass der letzte Kampf begonnen hätte und dass wir uns als stark und rein erweisen sollten.«
    »Der letzte Kampf?«
    »Ja.«
    »Was hat er damit gemeint?«
    »Ich ... ich weiß nicht.«
    »Dann habt ihr also am Montagmorgen sowohl von Clarissa Heerenmacht als auch von Jellineks Berufung erfahren?«
    »Ja ... obwohl, von Clarissa wussten wir ja schon. Dass sie nicht da war ...«
    »Findest du das nicht ein bisschen merkwürdig? Ich meine, dass das gleichzeitig passiert ist?«
    »Nein ...«
    »Aber ihr habt doch sicher darüber geredet?«
    »Nein, wir kriegten ...«
    »Was?«
    Plötzlich brach alles zusammen. Marieke Bergson rutschte vom Stuhl und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und zog ihre Knie bis zum Kinn in einer Art verzerrter Fötusstellung hoch. Und langsam stieg ein unterdrücktes, jammerndes Weinen in ihr hoch, ein Wimmern – eine unartikulierte Verzweiflung, die, wie ihm klar wurde, aus tief verborgenen Abgründen ihrer dreizehnjährigen Seele hervorbrechen musste. Einen Moment lang überlegte er, ob sie nicht Theater spielte, schob diesen Gedanken aber gleich beiseite.
    Armes Kind, dachte er. Was haben sie nur mit dir gemacht? Die Psychologin zögerte nicht, sich über sie zu werfen. Sie strich ihr mit langen, beruhigenden Zügen über die Arme, den Rücken und das Haar. Als das Mädchen sich ein wenig beruhigt hatte, aber immer noch zusammengekauert und verschlossen in ihrer eigenen, persönlichen Hölle dalag, hob die professionelle Frau ihren Blick zum Hauptkommissar.
    »So«, sagte sie. »Sind Sie jetzt zufrieden?«
    »Nein«, antwortete Van Veeteren. »Womit, zum Teufel, soll ich denn zufrieden sein?«

    Am Abend aß er mit Suijderbeck.
    Servinus war nach Rembork zurückgefahren, um die Nacht mit seiner Frau und seinen vier Kindern zu verbringen, aber Suijderbeck hatte keine derartigen Bindungen und zog es deshalb vor, das Zimmer im Stadthotel zu behalten, in dem er bereits eine Nacht verbracht hatte.
    Es war auch im Speisesaal des Stadthotels, wo sie beisammen saßen. Ganz hinten in einer verrauchten Ecke des gut besuchten, sepiabraunen Lokals mit Tischdecken, die früher einmal weiß, und Kristallleuchtern, die immer schon aus Glas gewesen waren.

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