Der Kommissar und das Schweigen - Roman
schon.«
»Dazu kommen wir später«, sagte Van Veeteren. »Du wusstest also, dass Clarissa am Sonntagabend nicht mehr im Lager war ... oder zumindest nicht mehr am Montagmorgen. Und
wann hast du dann erfahren, dass sie nicht nach Hause gefahren, sondern getötet worden war?«
»Das war ... ja, als die Polizei gekommen ist und uns geweckt hat. Die haben uns das gesagt. Und wir mussten sie uns ansehen und so. Weil wir doch ...«
»Ja?«
»Wir haben der Polizei nicht geglaubt ... davon sind wir doch ausgegangen, dass die lügt.«
»Aber ihr habt sie dann gesehen?«
»Ja.«
»Das verstehe ich nicht. Kannst du mir das näher erklären, was du damit meinst?«
»Wir haben ja erwartet, dass ihr aus der Anderen Welt zu uns kommen und uns schreckliche Sachen erzählen würdet, das war doch eigentlich die Prüfung.«
»Aber du hast begriffen, dass Clarissa wirklich tot ist, nicht wahr?«
Marieke Bergson schluchzte auf.
»Ja, als ich sie gesehen habe, wusste ich das natürlich ...«
Der Hauptkommissar nickte. Er selbst hatte ja darauf bestanden. Und auch wenn er eigentlich ein wenig an der Notwendigkeit gezweifelt hatte, so sah er jetzt ein, dass es wohl doch genau die richtige Entscheidung gewesen war.
So brutal, wie es die Situation erforderte.
Aber es war total unbegreiflich, dass keines der Mädchen bei der Konfrontation zusammengebrochen war. Um fünf Uhr morgens, aus der Bettwärme herausgescheucht, um mit dem Anblick einer ermordeten Freundin konfrontiert zu werden.
Andererseits hatte er sich damit zufrieden gegeben, sie am Krankenwagen vorbeiziehen und einen Blick durch die Türen hineinwerfen zu lassen. Und man hatte auch nicht sofort mit der Befragung der Mädchen begonnen. Hatte ihnen vorher noch eine Stunde Frühstückszeit gegönnt. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass die Veranstaltung auch eine Art Racheaktion gegen die verkniffenen Schwestern gewesen war,
aber vielleicht hätte man sich einen Tag erspart, wenn man gleich mit härterer Hand zugepackt hätte?
Härtere Hand? dachte er. Was für Ideen ich bloß habe.
»War das dann alles?«, fragte die Psychologin und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Nein, natürlich nicht. Da ist noch eine ganze Menge mehr.«
»Gibt es hier eine Toilette?«, fragte Marieke Bergson. »Ich müsste mal ...«
»Da draußen«, nickte Van Veeteren zur Tür hin und stellte den Kassettenrekorder ab.
Als sie zurückkam, übernahm sie sofort die Initiative.
»Und dann ist da noch das mit Katarina«, sagte sie.
»Katarina?«, wiederholte der Hauptkommissar.
»Ja, sie war anfangs auch mit im Lager, aber dann ist sie eines Morgens nach Hause gefahren. Sie hat irgendwas Dummes gemacht. Wir waren seit dem Frühling gut befreundet ...«
»Wie heißt sie weiter?«
»Katarina Schwartz. Sie hatte ihr Bett neben meinem.«
»Katarina Schwartz«, wiederholte der Hauptkommissar und machte sich Notizen. »Kommt sie auch aus Stamberg?«
»Ja.«
»Wie alt?«
»Dreizehn, fast vierzehn. Sie ist im Frühling nach Stamberg gezogen, vorher hat sie in Willby gewohnt.«
»Ihre Adresse und Telefonnummer weißt du nicht?«
»Doch.«
»Kannst du sie mir hier aufschreiben?«
Er schob Block und Stift über den Tisch. Marieke Bergson schrieb mit der Zunge im Mundwinkel. Als sie fertig war, schob sie den Block zurück. Der Hauptkommissar betrachtete die runden, schulmädchenhaften Buchstaben eine Weile, bevor er fortfuhr.
»Also. Sie hat etwas Dummes gemacht, hast du gesagt. Kannst du mir erzählen, was?«
Marieke Bergson zögerte und biss sich auf die Lippen.
»Sie hat über Jellinek geflucht. Sie hatte den Teufel im Leib ... Ich fand sie etwas merkwürdig, obwohl ich sie doch kannte, und die anderen fanden das auch. Wir sollten so tun, als wenn sie nie dort gewesen wäre.«
»Warum denn?«
»Ich weiß nicht, aber das war schon in Ordnung. Sie hatte sich dumm verhalten, sie hatte den Teufel in sich, und da war es das Beste, wenn wir sie vergaßen. Wir ... ja, wir haben sie wirklich vergessen. Mir ist eigentlich erst gestern wieder eingefallen, dass sie auch im Lager war, gestern, als ...«
Sie verstummte. Der Hauptkommissar wartete ab, aber es kam nichts mehr.
»Kannst du mir sagen, wann Katarina Schwartz verschwunden ist?«
Marieke Bergson dachte nach.
»Vor zwei Wochen, glaube ich. Vielleicht nicht ganz ... man verliert irgendwie das Gefühl für die Tage, die Zeit läuft in Waldingen anders als sonst ...«
Van Veeteren kam plötzlich der Gedanke,
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