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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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meinen Feind dann
zu Tode sicheln.
    Es war Kusks Drohung mit der Neurochirurgie, die mich auf diesen
Weg gebracht hatte, seine wie einer Traumkapsel der Kategorie B
entnommene Bemerkung, daß er mich auf seinen Operationstisch
schnallen würde.
    Schlechte Dialoge habe ich schon immer gehaßt.
     
    Das Gewächshaus. Schwüle, dicke Luft. Leichenstille.
Lautlos wuchsen die Äste, sogen die Wurzeln Nährstoffe auf.
Die Sonne stand mitten am Himmel, aber keiner der einundfünfzig
Sämlinge reckte sich ihrer Wärme entgegen. Sie waren wie
Baumleichen, wie totenstarre Todesbäume. Horg war nirgends zu
sehen. Ich bewegte mich mit präzisen, raubtierhaften Schritten
durch den Hain.
    Neben Horgs Schuppen schlief ein Neugeborenes. Es hatte dicke,
zwangsernährte Äste und trug nicht mehr als zwanzig
Früchte. Das war sicherlich der Baum des Wohlverdienten
Nachtischs. Wenn es nach dem Baron ging, würden eine Milliarde
ahnungsloser Psychosalonbesucher irgendwann glauben, daß sie
ihre Frauen, Männer, Eltern, Kinder, Geschwister, Liebhaber oder
Freunde aufgefressen hatten.
    Ich griff mir eine Heckensichel. Mein gesunder Arm ließ sie
durch die Luft sausen, ein Probelauf für die schrecklichen
Verletzungen, die ich dem Körper Simon Kusks mit ihr
zufügen würde. Die Klinge pfiff durch die Luft.
    Als ich mich vom Schuppen abwandte, schaute ich in eine
Todesbaumallee hinein; sieben standen auf der linken, sieben auf der
rechten Seite.
    Schock.
    Am anderen Ende der Allee wartete Kusk. Sein Laserskalpell blitzte
in der Mittagssonne. Neben Kusk stand Prill. Er hatte die
Fahrstuhlsteuerung um den Bauch, die es dem Baron ermöglicht
hatte, die Initiative wieder an sich zu reißen.
    Kusk zielte. Ich wußte, daß er sich diesmal nicht mit
Fleischwunden zufriedengeben würde.
    Ich duckte mich hinter den Wohlverdienten Nachtisch.
    Kusk feuerte.
    Der Strahl fuhr im Zickzack durchs Gewächshaus und grub sich
in einen Ast, der nur ein paar Zentimeter über meinem Kopf
herausragte. Rauch quoll aus der schwarzen Wunde. Als der Ast zu
Boden fiel, rollten seine Träume in alle Richtungen.
    Aber die Verstümmelung des Wohlverdienten Nachtischs war nur der Anfang des Chaos, das durch Kusks Schuß
ausgelöst wurde. Saft spritzte aus dem Stumpf, und bald darauf
züngelten Flammen hervor.
    Das Feuer ringelte sich um den nächsten Ast weiter oben. Eine
leichte Eroberung: Das Feuer eröffnete neue Fronten. Der Saft
spritzte und zischte. Bald darauf standen vier Äste in Flammen,
dann acht, dann die halbe Krone. Der kleine Baum loderte rötlich
und wand sich, ein Kind, dessen Haare Feuer gefangen hatten.
    Kusks verwirrtes Gesicht war ein prachtvoller Anblick. Er hob das
Skalpell, erwog das Risiko, ein zweites Feuer zu entfachen,
ließ das Skalpell sinken, hob es und ließ es wieder
sinken. Er zitterte und wimmerte. Er schien jeden Moment in zwei
Teile zerbrechen zu wollen, wie die Frau, die von dem wahnsinnigen
Zauberer in Reinworts Illusionist niedergemetzelt wird.
    Das Feuer sprang unerbittlich auf Schweine für den Markt über. Genauso wie es einen Ast vom Wohlverdienten
Nachtisch nach dem anderen verzehrt hatte, drohte es jetzt einen
Baum des unheiligen Hains nach dem anderen zu verbrennen.
    »Hol Hilfe!« Was Kusks Stimme Kraft gab, war sein
väterliches Entsetzen, als er sah, daß seine Kinder in
Todesgefahr schwebten.
    Prill rannte zum Fahrstuhlschacht und verschwand.
    Das Inferno tobte und brüllte wie hundert hungrige
Plasmidleoparden. Brennendes Holz regnete herab.
    Obwohl Kusk auf mich zukam, schien mir der Tod durch das Einatmen
von Rauch nun ein wahrscheinlicheres Schicksal zu sein als der Tod
durch Skalpellschnitte. Meine Augen tränten, und ich
würgte. Meine Lungen schrien nach Sauerstoff. Die Luft griff
mich an, versengte mich mit ihrer Hitze, trieb mir den Gestank von
verbranntem Saft in die Nase. Zweiundfünfzig Lügen brannten
lichterloh.
    Tränenblind rannte ich los, eine Hand ausgestreckt, die
Heckensichel in der anderen. Eine Wand ragte vor mir auf. Das
heiße Transplastik verbrannte mir die Hand, und kurz darauf
durchzuckte mich der gleiche Schmerz, als mir ein Laserstrahl die
Wange spaltete. Ich krümmte mich und brach zusammen. Selbst der
Boden war heiß.
    Mit dem Ohr am Boden hörte ich ein seltsames Geräusch.
Es war nicht mechanisch. Eine Stimme, oder vielmehr ein Chor von
Stimmen – ihre Tonhöhe war nicht menschlich, ihre
Verzweiflung jedoch ganz und gar, ein schrilles Gemisch aus Zorn,
Angst, Kummer und physischen

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