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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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ich. »Genug Lotoskapseln, um einen ganzen
Planeten in eine Irrenanstalt zu verwandeln. Aber wozu die
Entführung?«
    »Er wollte mich quälen, mich und meine Gefühle. Er
wollte mir klar machen, daß meine Bäume bis in alle
Ewigkeit diskreditiert sein würden, daß es ein Vorka nach
dem anderen gäbe, bis mich meine eigene Mutter anspucken
würde. Er betonte, daß er seine Spuren gut verwischt
hätte, und wenn ich ihm die Polizei auf den Hals hetzen
würde, dann bekäme ich bloß zu sehen, wie
unfähig die sei.«
    »Hat er gedroht, Sie umzubringen?«
    »Nein. Meine Gründe, ihn zu töten, waren wesentlich
interessanter. Wenn Sie je das Gesicht eines Vorka-Opfers gesehen
hätten, Quinjin – wenn Sie je Madeline Gosi oder Reginald
Boryk oder Marta Rem gesehen hätten –, würden Sie
verstehen, warum ich Kusk den Spaten aus den Händen gerissen und
ihm damit den Schädel eingeschlagen habe. Er taumelte einen
Augenblick lang herum… er stöhnte, aber nicht laut…
dann hielt er sich an seinem Baum fest. Er starb mit den Händen
an dessen Stamm und wässerte die Wurzeln mit seinem Blut. Ich
grub den Baum also aus, warf seinen Leichnam in das Loch und
schaufelte die Erde wieder darüber. Jetzt blieb mir nur noch,
den Sämling zu vernichten. Ich schnitt alle Äste ab und
zerquetschte sämtliche Lotoskapseln. Ich muß zu meiner
Schande gestehen, daß ich in jener Nacht sehr gut geschlafen
habe.«
    »Und Sie haben es bisher keinem Menschen
erzählt?«
    »Ein paar vertrauenswürdigen Freunden – und jetzt
Ihnen. Das habe ich getan, weil zwischen uns keine Geheimnisse mehr
im Raum stehen dürfen, wenn wir zusammenarbeiten wollen.
Verdammt noch mal, Quinjin, hören Sie auf, mich so
anzusehen.« Ich starrte ihn in der Tat an, wie ein Kanarienvogel
eine Katze anstarren mochte. »Haben Sie sich noch nie eine
Spionagethrillerkapsel zu Gemüte geführt? Selbst wenn ich
jetzt zur Polizei gehen würde – ist Ihnen nicht klar,
daß sie meine Geschichte für absurd halten und mich
zumindest wegen Mordes an Kusk, wahrscheinlich aber auch wegen des
Vorka-Massakers verhaften würde?«
    Da ich seinerzeit einen ganzen Haufen Spionagethrillerkapseln
eingeworfen hatte, verstand ich Seligs Paranoia und bemühte
mich, Mitgefühl für ihn zu entwickeln, obwohl die Situation
ethisch nicht gerade eindeutig war.
    »Gut zu wissen, daß es kein zweites Vorka geben
wird«, sagte ich.
    »Wenn wir uns da nur sicher sein könnten.«
    Mein Herz stülpte sich ein weiteres Mal um.
    Selig erhob sich von der Couch und marschierte über einen
Teppich, der so dick war, daß seine Füße darin
Abdrücke hinterließen, zu einer Wand mit besonders alt
aussehenden Büchern. Im Lichtschein des Kaminfeuers
glänzten die Buchstaben ihrer vergoldeten Titel, als ob sie
brennen würden. Er suchte in den Regalen und nahm ein in Folie
gebundenes Exemplar von Homers Odyssee heraus, das sich als
Fälschung erwies, sobald er es aufschlug; es war nichts weiter
als eine Schachtel, deren Samtbesatz durch eine Kugel von der
Größe eines Kuhauges eingedrückt wurde.
    »Das hier lag vorgestern vor meiner Tür«, sagte er,
während er auf mich zukam und das Buch auf meinem Schoß
deponierte. Die Farbe der Schale – pink – bewies, daß
der Elter der Kapsel trotzdem nur ein Sämling war.
    »Das falsche Buch auch«, fragte ich, »oder nur der
Traum?«
    »Beides. Für mich ist es sonnenklar, was das bedeutet.
Wir sollen glauben, daß der Lotosfaktor wiederentdeckt worden
ist. Wir sollen daraus schließen, daß ein Schüler
von Kusk gelernt hat, wie die Giftschlange ihren Garten zum
Blühen gebracht hat.«
    Als Selig sich diesmal auf die Couch warf, blieb er aufrecht
sitzen, als ob Mattigkeit und Verzweiflung ihn so festhalten
würden. »Herrgott«, stöhnte er, »ich dachte,
diese üble Geschichte wäre vorbei gewesen, als ich den
Sämling zerschnetzelt habe. Ich würde mich lieber mit dem Geist dieser Giftschlange herumschlagen, als mich noch einmal
mit einem ihrer perversen Träume abzugeben.«
    Als ich die polierte Oberfläche des Apfels anstarrte, zeigte
sie mir meine Augen. Sie brannten vor Enttäuschung und Zorn.
»Das ist also die Frucht, die ich essen soll? Das hier? Eine Lotoskapsel? Sie haben mich den ganzen Weg herkommen lassen,
damit ich mich eigenhändig in den Wahnsinn stürze?
Vergessen Sie’s, Professor!«
    »Das wahre Wesen des Apfels muß ergründet
werden.« Selig sprach mit völlig ruhiger Stimme, wie schon
den ganzen Abend. »Wenn es wirklich eine

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