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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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als Schloß bezeichnet hätte. Als ich eintrat,
eilte gerade eine Studentin mit einem Kompendium von
Traumkapselkritiken unter dem Arm vorbei. Leider war es nicht Oneiromantik, das von mir verfaßte Kompendium. Ich
lächelte sie an. Sie lächelte zurück. Ich hoffte, sie
hatte irgendwie bemerkt, daß ich sie nicht aus Höflichkeit
angelächelt hatte oder um meine gute Laune zum Ausdruck zu
bringen, sondern einfach, weil sie so überaus hübsch
war.
    Der Weg zum Studio A war im typischen Wendcraft-Stil verschlungen
und mehrdeutig beschriftet, und ich fand es eigentlich nur durch
Zufall. Ich öffnete vorsichtig die Tür, wobei ich mich
erfolgreich bemühte, möglichst leise zu sein, und diese
Taktik machte sich bezahlt. Ich sah Urilla, bevor sie mich sah.
    Der Raum war sechseckig und merkwürdig leer für ein
Studio. Boden und Decke bestanden aus schimmernden
Transplastikfliesen. Die leuchtenden Wände waren ebenfalls aus
Transplastik; an ihnen waren rundum Holovisionsmonitoren angebracht,
auf denen gerade eine surreale Szenerie – Rentiere mit Feuer im
Geweih, Frauen, die Schlangen gebärten, das übliche halt
– Gestalt und Ungestalt aus Urillas fruchtbarem Gehirn annahm.
Sie saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, die
Handflächen nach oben, zeigte mir ihr Profil und trug eine
Elektromelone. Der glänzende Metallhelm umspannte ihren Kopf von
einem Ohr zum anderen, von den Augenbrauen bis zum Genick. Ein rotes
Gewand floß wie ein Lavastrom von ihrem Hals herab.
    In einem Punkt hatte Selig recht. In Urillas Stammbaum hatte es
zweifellos ein oder zwei Hexen gegeben. Keine Märchenhexen,
keine alten Vetteln mit warzigen Nasen, sondern Zauberinnen mit
rabenschwarzen Haaren, wie sie in jenen B-Horrorkapseln, in denen man
den Richter spielte und durch dieses Amt einen Fluch auf sich und all
seine Nachfahren lud, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Mit
den hohen Wangenknochen, der spitzen Nase, den schmalen Lippen und
diamantenen Augen gehörte ihr Gesicht zu jenen, die in einem
Moment unheimlich und im nächsten sinnlich aussahen. Was die
Jahre, die inzwischen vergangen waren, Urilla auch geraubt haben
mochten, ihre sibyllinische Schönheit war weitgehend
unangetastet geblieben.
    Auf den Bildschirmen verblaßten die flammenden Rentiere, die
neugeborenen Schlangen und der andere seelische Müll zu
optischem weißen Rauschen. Urilla stand auf, nahm ihre
Elektromelone ab und und drehte sich zu mir um.
    »Ich habe über die sechste Szene nachgedacht«, rief
ich, um auch ja das erste Wort bei unserer Wiedervereinigung zu
haben. »Würde Sallie nicht in Erfahrung zu bringen
versuchen, wie sich Macks Leben entwickelt hat, bevor sie
zurückgeht und ihm einen Heiratsantrag macht?«
    Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann hatte Urilla ihre
Überraschung im Griff; die Anzeichen dafür verschwanden wie
weggewischt aus ihrem Gesicht, und sie stieg voll darauf ein.
»Nein, nein – wie oft müssen wir das denn noch
durchkauen? Sallie ist zu verantwortungslos dafür.
Quinjin andererseits, der ist verdammt verantwortungsbewußt, so
verantwortungsbewußt, daß er Dr. Seligs Lotoskapsel
authentifizieren wird.« Sie warf mir ein reizendes
Hexenlächeln zu. »Guter Gott, ich wußte, daß
ein Kritiker kommt, aber ich hätte nie gedacht, daß
du’s sein würdest.«
    »Ich bin’s«, gab ich zurück. »Aber ich
habe keineswegs zugestimmt, irgendwas zu authentifizieren.«
    Wir kamen aufeinander zu und durchliefen die ganze Skala von
Begrüßungen – Händeschütteln,
Armeschwenken, zwei Umarmungen, ein rascher, eher hingehauchter
Kuß. Schwatzend verdichteten wir die letzten
einhundertvierundvierzig Monate auf drei Minuten.
    Zu meiner Freude hatte Urilla Toland Barnes nicht geheiratet. Zu
ihrem Kummer war sie auch keine Traumweberin geworden. Statt dessen
war sie zu Seligs Mitarbeiterstab gestoßen. Vormittags
unterrichtete sie Nachwuchstraumweber in der Neuropsychologie des
Kapselschluckens; die Nachmittage verbrachte sie als Stipendiatin der
Verthandi-Stiftung mit der Klassifizierung der nicht-narrativen
halluzinatorischen Idiome. Wie ich umkreiste sie die Kunst, schuf jedoch keine, obwohl sie behauptete, sie würde umsatteln,
sobald ihre Forschungen abgeschlossen seien. »Ich bringe die Bereinigung noch in einen Salon, du wirst sehen!«
behauptete sie, während sie ihre Melone mit einer
Haarsträhne polierte.
    »Soll ich Seligs Apfel essen?« fragte ich
plötzlich. Kritiker sind immer so plump.
    »Formulieren wir’s mal so: Wenn

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