Der Kontinent der Lügen
war ein
Artikel über Pandriacs Adaptation von…«
Selig parierte, indem er ein paar Elektrozin-Printouts aus der
Tasche zog. Die dicke Seide seines Gewandes sah aus, als ob sie aus
Würmern gesponnen worden wäre, die man mit Ambrosia
gefüttert hatte. »Aber ich sehe Ihren Namen unter dieser
Rezension von Eine Million Wahnsinnige.« Er raschelte
anklagend mit den Seiten. »Und hier auch wieder, bei Bestialisch. Und noch mal bei Satanische
Predigten.«
»Stimmt, die habe ich geschrieben«, gestand ich.
»Kein Grund, sich zu schämen. Ich liebe jeden
Schlingbaum, den vulgären und rückständigen ebenso wie
den schönen. Sie haben allesamt ihren Platz, sie alle helfen den
Leuten, die Trostlosigkeit aus ihrem Leben zu verbannen. Meine
Bäume sind meine Kinder. Sie können denken und fühlen,
wissen Sie das? Ich habe ihnen ein Gehirn gegeben, das in ihren
Pfahlwurzeln sitzt. Und jetzt, wo jemand sie zu zerstören
versucht, wo…« Eine plötzliche Traurigkeit
schnürte ihm die Kehle zu. Er schluckte vernehmlich. »Sie
wollen wissen, warum Sie hier sind«, fuhr er fort. Seine Stimme
klang wieder wie vorher. »Welchen Traum ich von Ihnen rezensiert
haben möchte. Aber zuerst muß ich Ihnen etwas über
Simon Kusk erzählen.«
»Simon Kusk?«
»Der übelste Mensch, dem ich je begegnet bin. Wenn Sie
ihn gekannt hätten, Quinjin, hätten Sie keine so hohe
Meinung vom durch und durch Bösen mehr. Es war nämlich
Simon Kusk, der das Vorka-Massaker begangen hat.«
»Judas am Krückstock! Weiß das die
Polizei?«
Selig versuchte erneut, sich auszustrecken, und setzte sich dann
ebenso ruckhaft wieder auf. »Kommen Sie mit mir ins Jahr A.G.
758 zurück. Damals war ich vierzig Jahre alt. Er war achtzehn.
Simon Kusk erlangte seine Bösartigkeit schon in sehr jungen
Jahren.«
Und dann erzählte mir mein nervöser Gastgeber eine
Geschichte, die – wahr oder nicht – eine höllische
Traumkapsel ergeben hätte.
In der Beziehung zwischen Selig und Kusk gab es keine Zeit
ungetrübten Glücks, in der sie die Rollen einnahmen, die
naive Beobachter erwarteten: brillanter Professor und
Starschüler, gütiger Mentor und dankbares Wunderkind. Nach
Seligs Worten war Kusk vom ersten Tag an unausstehlich; er benahm
sich, als ob kein Teil des Wendcraft-Lehrplans neu für ihn
wäre und als ob eigentlich er derjenige sei, der der
Fakultät das eine oder andere übers Halluzinieren
beibringen könne. Er ließ durchblicken, daß er sich
hauptsächlich deshalb eingeschrieben hatte, um Zugang zur
Ausrüstung zu bekommen: zu den
Neuroaktivitätsverstärkern und Gensynthetisierern, mit
denen Traumweber schöpferische Phantasie in greifbare Samen
verwandelten. Für Selig wurden die Seminare ein Alptraum der
Herausforderung und Erniedrigung; Kusk ergriff wiederholt das Wort,
um seinen Mitstudenten Vorträge darüber zu halten,
daß noch niemand auch nur eine vage Ahnung vom ›wahren
Potential‹, dem ›eigentlichen Zweck‹ der
Zephäpfel hätte und daß sich die Universität
davor fürchtete, das Geheimnis zu enträtseln. Aber sobald
er in der Abgeschiedenheit von Seligs Büro saß, pflegte
Kusk genau zu sagen, was er suchte: einen so lebendigen, intensiven
Traum, daß die Kapselschlucker vergaßen, daß sie
Halluzinationen hatten; eine Hyperrealität, in der sich das
Publikum vollständig verlor. »Unfreiwillige Ausräumung
des Zweifels – das ist das Schicksal Ihrer Erfindung«,
erklärte Kusk seinem Professor immer wieder. »Das ist der
logische Höhepunkt der Schlingbaum-Evolution.« Er hatte
sogar schon einen Namen für diese neue Dimension des Mediums. Er
nannte sie den Lotosfaktor, nach jener Gedächtnisverlust
verursachenden Frucht, die Homer in der Odyssee erwähnt.
Wenn es sich bei Kusk nur um einen konventionellen Egomanen
gehandelt hätte, dann wäre die Situation zwar nicht
unbedingt erträglicher, aber wenigstens nicht so unklar gewesen.
Der Junge hatte jedoch Talent. Die Mappe, die ihn nach Wendcraft
gebracht hatte, war einfach grandios: Liebeskapseln, die einen
Holzfäller zum Schluchzen bringen konnten, und Horrorkapseln,
bei denen der Tod selbst so gebibbert hätte, daß ihm glatt
die Sichel aus der Hand gefallen wäre. Wenn es jedoch darum
ging, die Studioarbeiten anzufertigen, sahen Kusks Träume
jedesmal wieder flüchtig und lieblos hingehauen aus. Er war zu
sehr damit beschäftigt, seinem Lotosfaktor nachzujagen, um ein
reiner Student zu sein. Als zu seinen dürftigen Projekten (von
denen kein einziges rechtzeitig
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