Der Kontinent der Lügen
ich jetzt mit Toland
Barnes reden würde, würde ich sagen: ›Sieh mal,
Toland, irgendwer wird das Ding irgendwann testen müssen. Um
eine Seuche zu stoppen, muß man die Krankheit zuerst mal
identifizieren. Aber das solltest nicht du tun, Toland. Laß
dich nicht in Versuchung führen. Du bist nicht stark
genug.‹ Schließlich ist Barnes bloß Journalist,
stimmt’s? Für ihn sind Zephäpfel nur eine schlichte
Nachricht. Aber du bist anders, Quinny. Du bist Kritiker. Du
analysierst auch noch, wenn du träumst. Du hast damit Karriere gemacht, daß du innerlich eine gewisse Distanz
zu deinen Erlebnissen herstellen kannst. Außerdem gibt es
bestimmte Waffen, die wir dir geben können, gewisse Bestandteile
einer psychischen Rüstung, die die Vorka-Opfer nicht hatten. Ich
will aber ehrlich sein. Ein ›Hinterher doppelt so fit‹ ist
dabei nicht drin. Wir können nicht garantieren, daß der
Traum dir nicht schaden wird. Wenn du in die Kapsel beißt, dann
nicht, weil ich dir das Gefühl gegeben habe, daß es
absolut sicher ist. Deine wahren Gründe werden woanders liegen
– und damit meine ich nicht die zehntausend Furniere.«
»Erzähl mir was über diese psychische
Rüstung«, sagte ich hastig.
»Ich möchte dich zu einem Weber machen – nicht zu
einem echten, wohlgemerkt, auch nicht zu einem guten. Aber zu einem
Menschen, der seine Phantasien Früchte tragen lassen kann. Wir
müssen das Medium für dich von allem Mystischen befreien.
Wir müssen den Wurm des Geheimnisses aus dem zephalischen Apfel
schneiden.«
Sie beugte sich vor und setzte mir die Melone auf. Die verkabelten
Noppen in ihrem Innern preßten sich wie kleine, saugende
Münder an meine Kopfhaut.
»Ich hab nichts gegen eine kostenlose Lehrstunde«, sagte
ich, »aber bilde dir bloß nicht ein, daß diese
Schüssel auf meinem Kopf heißt, daß ich die
Lotoskapsel…«
Sie ergriff meine linke Hand und hielt sie zwischen ihren
erotischen Händen fest. »Traumweben ist die Kunst
konsequenter Konzentration. Wenn deine Gedanken von der Geschichte
abschweifen, ist die Illusion dahin.« Mein Arm wurde zu einem
Strick, der mich zu Boden zog. »Zuerst brauchen wir eine
Szenerie. Heute werden wir keine reine Fiktion probieren – das
ist nichts für Anfänger. Denk dich an einen vertrauten
Ort.«
Ich entschied mich für den heruntergekommenen
Vergnügungspark, in den ich meine Tochter bei meinem letzten
Besuch mitgenommen hatte – vier unglaublich lange Jahre war das
jetzt schon her –, und es gelang mir mühelos, ihn vor mein
geistiges Auge zu zerren. Überall im Studio begann der Schnee
auf den Bildschirmen schneller zu wirbeln; das statische Rauschen
löste sich allmählich in ein fröhliches Durcheinander
auf, ein Gewirr von Riesenrädern und Karussells, brüllenden
Marktschreiern und feuerspeienden Lokomotiven, unheimlichen Tieren
und beunruhigenden Clowns. Weit in der Ferne bog eine Achterbahn das
Rückgrat durch und lieferte ihre Passagiere dem stets noch
soeben abgewendeten Untergang aus.
»Was ist das?« fragte Urilla, raubte mir damit die
Konzentration und machte die Bildschirme blind.
»Das war ein Vergnügungspark«, erklärte
ich gereizt.
»Du kriegst ihn ja zurück.« Sie hatte recht; der
Park materialisierte sich doppelt so schnell wie bei seiner ersten
Erschaffung. »Nimm jemand rein, der mit dir zusammen
ist.«
Nach einigen neurologischen Anstrengungen gelang es mir, die
achtjährige Lilit meiner Erinnerung – eine verdammt gute
Replika, fand ich – auf den nächsten Bildschirm zu zaubern,
wobei ich ihren gelenkigen Körper, die Pausbacken, den
zitronenverzogenen Mund, das bronzefarbene Haar und ihre
außerordentliche Sinnlichkeit – die letzte Ruhepause vor
der Pubertät – recht ordentlich hinbekam.
Lilit und ich waren früher oft hierhergekommen. Da ich mich
zeit meines Lebens immer für Spinnereien und alle Arten von
Zeitverschwendung begeistern konnte, vermute ich, daß mir
solche Ausflüge noch mehr Spaß machten als ihr. Sie war
kaum auf der Welt, und wusch! – schon ging’s los zur
Hundeschau, zum Spielzeugladen, zu den Schlängelpflanzenrennen,
in die Schokoladenfabrik, den Zirkus und den Psychosalon. In dieser
Hinsicht war ich als Vater fast unschlagbar. In anderen Dingen…
nun, vielleicht war es wirklich richtig, daß Talas das
Sorgerecht bekommen hatte. Klar, ein Zephapfelkritiker war viel
unterwegs, spürte vielversprechend klingenden Träumen in
schäbigen kleinen Städten nach und nahm an Traum-Festivals
auf
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