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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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»Er
war ein Schattending, das sich von Schuldgefühlen und
Wahnvorstellungen nährte. Als du deinen Vater gerettet hast, ist
dein Feind verhungert. Der Bann ist gebrochen. Ich habe alles
gesehen. Der Lügner hat sich in einen stinkenden Lavaklumpen
verwandelt, ist aus seinem Umhang geflossen und im Boden
versickert.«
    Zugegeben, ›ein stinkender Lavaklumpen‹ ist nicht gerade
das, was man unter natürlichem Dialog versteht, aber
schließlich war das eine Traumkapsel.
    Jonnie legte Urilla/Lilit voller Zuneigung eine Hand auf die
Schulter. »Du bist heute erwachsen geworden, Lilit – so
erwachsen, daß ich dir wie ein kleiner Junge vorkommen
muß. Aber wenn du dich dazu entschließen kannst, mich als
Freund – oder mehr – zu betrachten, wäre das
großartig. Denn ich mag dich sehr. Viele Leute tun
das.«
    »Viele Leute«, wiederholte Urilla/Lilit – ihr
zweiter Satz.
    »Das war natürlich alles ein Traum«, fuhr Jonnie
fort. »Selbst ich bin ein Traum. Ob der Traum einen Namen hat?
Manche nennen ihn den Schlaflehrer. Ich bin in deinen Traum
eingetreten, um dir die Wahrheit zu sagen.
    Und die Wahrheit ist, daß du nicht nur liebenswert bist,
sondern daß ich dich liebe.«
    Reines Therapiegeschwätz. Urilla und ich hatten das
Gefühl, daß es nötig war. Es gibt keine bessere
Medizin, und wir wußten, daß Jonnie jedes Wort mit voller
Überzeugung von sich geben würde. (Ach, was hätte
Freud mit diesem Medium anfangen können!)
    Der Schlaflehrer fügte aus dem Stegreif zwei weitere
›Ich liebe dich‹s hinzu und setzte dann zu einem Kuß
direkt auf die Lippen an. Die beiden umarmten sich so fest, daß
das Blut auf Urillas Brust über Jonnies ganzes Hemd verteilt
wurde; im Gegensatz zu mir brauchte Jonnie seine sexuellen Regungen
nicht im Zaum zu halten, und ich bin sicher, er schwelgte in allen ménage-â-trois- Phantasien, die die Situation
nahelegte. Mir gefiel dieser Teil des Skripts weniger. Aber es ging
natürlich nicht anders. Der Traum war Lilits Übergangsritus
und mußte sie deshalb in die Realitäten erwachsener
Sexualität einführen. Aber welcher Vater will schon,
daß seine Tochter so alt wird? Eins wurde mir klar: Falls Lilit
je wieder den lauernden Lügner schluckte, was Gott
verhindern mochte, so würde sie nicht mich erblicken, wenn sie
aufgefordert wurde, denjenigen zu sehen, den sie am meisten
liebte.
    Der gewaltige Kuß hörte gar nicht mehr auf.
    »Vorhang!« rief Torin.
    Horg schaltete die Pumpe aus und applaudierte.
    Unser Regisseur ließ uns erneut Aufstellung nehmen.
»Na, was meinst du zu deiner Vorstellung?« fragte er
Urilla.
    »Meinen Text habe ich jedenfalls richtig
hingekriegt.«
    »Mach dich nicht kleiner, als du bist, meine Liebe. Du hast
jeden Moment richtig hingekriegt – außer vielleicht das
Schwimmen. Sei beim nächstenmal ein bißchen
unbeholfener.«
    Wenn Urilla nicht in künstliches Blut gebadet gewesen
wäre, wäre sie ihm bestimmt um den Hals gefallen.
    Torins Reaktion auf Jonnie: »Und du, Mister Schlaflehrer, du
hast offenbar bei einem Meister Unterricht gehabt – bei
jemandem, der Torin Diffring gleichwertig ist, darf ich wohl
behaupten.«
    »Das sieht man, was?«
    Vom Vater war Torin erheblich weniger begeistert. »Du
hältst dich zu sehr zurück, Quinjin. Denk daran, du wirst
von der Schwelle des Todes gerettet, und zwar von niemand Geringerem
als deiner eigenen Tochter. Da kannst du ruhig etwas mehr
aufdrehen.«
    Ich erklärte Torin, daß ich mir meine Energie für
das echte Weben aufsparte. Dann fügte ich hinzu: »Ist
dieser Kuß am Schluß nicht zu lang?«
    »Nein.« Er zog sein Skript zu Rate. »Aber dieser
Satz hier – ›Rette mich, Liebling‹ –, der ist
fürchterlich schlecht.«
    »Soll er auch sein.«
    »Bleibt drin?«
    »Bleibt drin.«
    »Na schön, Leute!« rief er. »Jetzt wird’s
ernst!«
    Die Sackgassen des Irrgartens wurden zu unseren Garderoben.
    Ich tauschte in aller Eile meine blutigen Straßenklamotten
gegen das braune Trikot aus, das der Android im lauernden
Lügner getragen hatte.
    Jonnie kam in seinem prächtigsten Alptrinkerkostüm aus
dem Irrgarten, mit juwelenbesetztem Cape und allem.
    Als Urilla herauskam, sah ich, daß sie einen Fadenwurmparka
anhatte, wie ihn Lilit in der Zeit vor ihrer Bekehrung so gern
getragen hatte.
    Nun folgte eine Krönung: Horg setzte Urilla die modifizierte
Elektromelone auf. Mein Hals wurde eng, und die Tränenmaschine
kam in Schwung – all diese netten Leute, die zusammenarbeiteten
und sich solche

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