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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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nicht wirklich frei sei von dem Traum, daß an seinen
Lotoskapseln mehr dran sei, als ich mir auch nur vorzustellen
wagte.
    Wie es sich ergab, sollten diese Vermutungen meines
Unterbewußtseins bald bestätigt werden.
     
    Mein Aufenthalt in Wendcraft endete, wie er begonnen hatte: Selig
und ich betranken uns in seiner Bibliothek, während der Regen
die Fenster attackierte und Blitze den Himmel spalteten. Die
Zusammenkunft hatte er vorgeschlagen, den Ort ich; mir gefiel diese
Bibliothek besser als jeder andere Ort auf dem Planeten Zahrim.
    Selig zog an seinem Bart, bis zwei ziegenbockartige Hörner
entstanden, warf ein Holzscheit ins Feuer und begann zu sprechen.
»Als Sie vor vier Tagen in der Krankenstube erwachten und mir
vom lauernden Lügner erzählten, schilderten Sie, wie die
Schlüssel zu Käfern wurden und verschwanden. Sie schienen
zu glauben, das sei die letzte Szene des Apfels gewesen.«
    »Ja. Ich kann die Frustration immer noch
spüren.«
    »Es ist an der Zeit, daß ich Ihnen alles sage, Quinjin,
damit die Geheimnisse gebannt sind wie Phantome beim ersten
Hahnenschrei, selbst wenn das bedeutet, daß Sie
beschließen, Urilla allein auf die Jagd nach dem Baum gehen zu
lassen. Um es kurz zu machen, es besteht Grund zu der Annahme,
daß der Apfel einen anderen Höhepunkt hatte.«
    »Ach ja?« erwiderte ich und trank einen Schluck Cognac,
um gegen ein plötzliches Frösteln anzukämpfen.
    »Sie erinnern sich vielleicht, daß wir eine
Aufzeichnung gemacht haben, während Sie träumten. Gegen
Ende haben wir das ›Keine Schlüssel!‹-Geschrei,
gefolgt von sechs Minuten langem Stöhnen.«
    »Stöhnen – meine Reaktion auf den Abflug der
Käfer.«
    »Und dann haben Sie noch etwas gesagt.«
    Der Cognac landete in meiner Nase.
    Seligs Vokalitapparat stand auf demselben Tisch wie eine
Leselampe, ein kleiner Lucaizai und die falsche Odyssee-Ausgabe. Er
ging hin und steckte eine münzengroße Scheibe auf die
Spindel. Der Apparat sprach.
    »Mein einziger Gott ist Goth«, hörte ich mich
sagen. »Mein einziger Gott ist Goth… mein einziger Gott ist
Goth… mein einziger Gott…«
    Selig nahm die Scheibe herunter. »Sie haben es hundertmal
gesagt. Ich habe mitgezählt.«
    »Goth?«
    »Goth.«
    »Was soll das bedeuten?«
    »Das dürfen Sie mich nicht fragen, Mr. Kritiker. Ich war nicht in dem Traum.«
    Ich durchforschte meine Erinnerung an den lauernden Lügner.
Ich konnte mich an keinen Goth entsinnen.
    »Der Name ruft keine Ehrfurcht, keine göttlichen
Erscheinungen hervor?«
    »Nichts dergleichen.«
    »Es scheint, daß Sie einen Teil des Erlebnisses vor
sich selbst verheimlichen. Eigentlich ein ganz normales
Phänomen. Freud nannte es Verdrängung.« Selig kehrte
zu seinem Kamin zurück, wobei er die Hände bewegte, als ob
er etwas aus den Flammen formen wollte. »Versuchen Sie sich zu
erinnern. Wenn wir herausfinden könnten, wer Goth ist,
würden sich viele Stücke des Puzzles zusammenfügen.
Dann würden wir den Zweck des Traums kennen, glaube
ich.«
    Ich durchforstete erneut meine Neuronen.
    »Nichts«, sagte ich.
    Ein Blitz zog eine Zickzacklinie über den Himmel.
    »Beunruhigt Sie diese Neuigkeit?« fragte Selig.
    »Möglicherweise… wahrscheinlich… ja.«
    »Sind Sie immer noch bei der Jagd dabei?«
    »Ja«, sagte ich und wünschte, mein Gewissen
hätte mir eine andere Antwort erlaubt.
    Die Stimme des Blitzes grollte durchs Zimmer.
    Mein einziger Gott war Goth?

 
4

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Die Wahrsagerin

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    Mit ihren erleuchteten Bullaugen schwamm Jonnie Rondos private
Vergnügungsjacht wie ein protziges, überteuertes Spielzeug
im trockenen Meer des Weltraums. Als unser Shuttle näher kam und
wir den Namen der Jacht – Fleischtopf – lesen
konnten, sagte Urilla: »Irgendwann mache ich mal einen
politischen Traum, was ganz Aufrührerisches. Ich hab noch keine
Geschichte, aber ein Thema – die Pornographie des
Reichtums.«
    Ich war versucht zu bemerken, daß sie das Publikum damit zum
Einschlafen bringen würde, aber ich wollte keinen Streit vom
Zaun brechen. Urilla und ich hatten uns in letzter Zeit häufiger
gestritten, seit ihr zum erstenmal aufgefallen war, daß ich
Fehler hatte. Sie war besonders darauf erpicht zu klären,
welcher dieser Fehler der Grund für meine Scheidung gewesen war.
»Ich wette, es war dein Snobismus«, pflegte sie zu sagen.
»Oder deine Angewohnheit, Leute zu kritisieren, als ob sie
Traumkapseln wären. Warte, nein – laß mich raten
– es war die Art, wie du quengelst und

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