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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Begrüßung«, verlangte Selig, als ich
auf einmal zu Bewußtsein kam. »Assoziieren Sie einfach nur
frei.« Wie er da am Fußende des Bettes hockte,
ähnelte er Lucaizais einziger gegenständlicher Skulptur, Die kauernde Gottheit.
    Meine Augen fühlten sich wie zwei trockene Steine an, die in
meinem Schädel steckten. Meine Zunge war dick und klebrig, eine
übergewichtige Kröte. Mein Hals war in Gaze eingewickelt.
Ich begann zu prüfen, ob ich noch bei gesundem Verstand war. Wer
ist Präsident des pangalaktischen Senats? Elliot Frowze,
antwortete ich (korrekt). Was ist deine Lieblingstraumkapsel? Bekannte Mengen. Wie alt ist deine Tochter? Zwölf.
    Ein mechanischer Schluckauf: Seligs Vokalitapparat war an.
Draußen verlagerte sich die Unterhaltung der Studenten von
Sport auf Politik. Ich assoziierte frei.
    Ich erzählte von der Gestalt mit der Kapuze… von Lilit
im Brunnen… davon, wie ich durch den Irrgarten lief… wie
ich den Ziegenbock tötete… und von dem überraschenden
Höhepunkt, als sich die Schlüssel in geflügelte
Insekten verwandelten.
    »Sagen Sie mir, was Sie davon halten«, verlangte Selig.
»War es eine Lotoskapsel?«
    »Wenn nicht, dann war es etwas genauso Starkes. Während
ich da drin war, war es… alles.« Kritiker sind es gewohnt,
ihre Meinungen als Tatsachen hinzustellen, aber es war nicht nur eine
Meinungsäußerung, als ich langsam hinzufügte:
»Ohne die Vorsichtsmaßnahmen, die ich ergriffen hatte,
müßten Sie mich jetzt in eine Zwangsjacke stecken, Dr.
Selig. Sie könnten mich in die Akademie der Witzfiguren
aufnehmen.«
    Selig nahm dieses Urteil genauso auf, wie ich vermutet hatte. Er
machte ein Gesicht, als ob er ein Gespenst gesehen hätte, das
schlechte Nachrichten brachte. »Nun, dann ist ja ein Geheimnis
gelöst«, stammelte er. »Aber wozu ist das Ding
hergestellt worden? Wer hat es gewoben?« Seine Finger erklommen
die höheren Regionen seines riesigen Schädels. »Ich
gäbe die schlauere Hälfte meines Gehirns dafür her,
wenn ich eine Antwort auf eine dieser beiden Fragen
bekäme.«
    »Der Traum enthielt keinerlei Hinweise – jedenfalls kann
ich mich an keine erinnern.« Als ich mich aufsetzte, begann es
in meinem Kopf ganz fürchterlich zu pochen, als ob ein Gedanke
dem Gefängnis meines Schädels zu entkommen versuchte.
»Könnte der Weber ein anderer ehemaliger Student von Ihnen
sein? Haben Sie in letzter Zeit jemand rausgeworfen?«
    »Nein. Kusk war der einzige Feind, den ich mir je gemacht
habe. Und obwohl es mir irgendwie schmeicheln sollte, daß eine
Lotoskapselfrucht für eine neue Anti-Selig-Vendetta
gezüchtet worden ist… – aber nein, diesmal geht
offenbar etwas anderes vor.«
    Urilla kam herein, und ich glaube, das war der Moment, in dem ich
mich in sie verliebte… erneut verliebte… erkannte,
daß ich nie aufgehört hatte, sie zu lieben. Sie trug ihr
sinnliches Gesicht zur Schau. Ihre Bluse war weiß und
spitzenbesetzt; sie schien in Zirruswolken gekleidet zu sein. Nachdem
sie sich vergewissert hatte, daß ich tatsächlich als
Sieger aus dem Kampf hervorgegangen war, küßte sie mich
auf eine Weise, in der die Andeutung eines Vorspiels lag.
    »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, mein Freund«, sagte
sie. »Wie war’s denn? Ein Abtauchen in Tiefen mit
Druckverhältnissen, die nicht für den menschlichen Geist
gedacht sind?«
    »Die Hyperrealität ist… halb so wild.« Meine
Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Ich fühlte mich jetzt recht
gut.
    »Selig sagt, du hast gekeucht und geschrien.«
    »Garantiert.«
    »Du solltest stolz sein, Quinny. Ein weniger guter Kritiker
– Toland Barnes oder so jemand – hätte den Traum
falsch interpretiert. Ein schwächerer Verstand hätte ihn
vielleicht sogar für die Wahrheit gehalten.«
    Sie ging zu Selig und kraulte ihm spielerisch den Bart. »Na,
dann wissen Sie ja endlich, was Sie suchen müssen, hm,
Professor? Einen frei wachsenden Todesbaum.«
    Selig machte eine Senke in mein Wasserbett und formte es zu einer
Bergkette. »Eine Nadel im Heuhaufen«, murmelte er
müde. »Nein, schlimmer. Die Nadel im Heuhaufen könnte
ich finden. Man muß bloß den Heuhaufen verbrennen, das
ist alles. Und dann mit einem Magneten über die Asche
gehen.«
    »Eine Träne im Ozean«, sagte Urilla. »Eine
Seifenflocke im Schneesturm.«
    Selig ließ seine Berge wieder flach werden.
    »Die Chancen«, sagte er, »stehen günstig
für den lauernden Lügner.«
     
    In dieser Nacht schlief ich in der Krankenstube, immer noch unter
der

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