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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Perversion gingen sie außerhalb der Salons und folglich
auch außerhalb der Legalität nach; sie wollten, daß
ihre Frucht in jedem Sinn des Wortes verboten war. Nur die
ausgefallensten und widerwärtigsten Träume konnten sie
befriedigen. Das Geschmacklose war genau nach ihrem Geschmack, sie
waren Genießer des Abstoßenden, Kenner der
Avant-Avantgarde – jeder Kapsel, die durch Zufall oder Absicht
so bizarr ausfiel, daß kein renommierter Vertrieb sie anfassen
würde. Immer wenn ein Züchter feststellte, daß einer
seiner Schützlinge eine derartige Frucht trug, wußte er,
wie er es vermeiden konnte, die Investition als Totalverlust
abzuschreiben. Bevor er den Sämling verbrannte, fuhr er die
erste Ernte ein und schmuggelte sie zu den Nachtwürmern, den
Sonnenmördern, den Schrägen Schwestern oder der
Bruderschaft des Abgrunds – welche Sekte auch immer den
größten Batzen dafür bezahlte.
    Die schäbige Wahrheit war, daß ich einen ausgewachsenen
Nachtwurm zu meinen Freunden zählte. In dem Artikel, den ich
über ihn geschrieben hatte, hieß er Ben Braxis. Sein
richtiger Name war Jonnie Rondo. Jonnie war sechzehn, verwöhnt
und so reich wie der liebe Gott, aber – wie es bei Alptrinkern
meistens der Fall ist – nur mäßig verdorben. Die
Beziehung hatte auch ihre guten Seiten. Dadurch, daß ich den
kleinen Jonnie kannte, kam ich mit einer Art von Kunst in
Berührung, die nie in die Salons gelangte. Zum Beispiel hatte
ich bei Jonnies letzter Party den legendären Kakodämon geschluckt und war in der Folge von einem so entsetzlichen
Monster angegriffen worden, daß die Werke von E. A. Poe, H. P.
Lovecraft und W. W. Vardularg dagegen alle zusammen wie
Geburtsanzeigen wirkten.
    Ich gestand Urilla, daß ich hin und wieder mit einem
Nachtwurm Umgang hatte.
    »Ist er auf diesem Planeten?«
    »Im Orbit. Er hat eine Achtzig-Meter-Raumjacht.«
    »Seligs Argumentationskette geht so: Nehmen wir mal einen
Augenblick an, der betreffende Traumweber will seine Lotoskapseln
nicht nur vor Türschwellen legen, sondern hat
Größeres im Sinn – er plant, seinen Sämling auf
einen Hydrasteroiden zu bringen. Dann braucht er professionelle
Unterstützung, stimmt’s? Er muß mit einem
Züchter zusammenarbeiten. Nun, irgendwann wird dieser
Züchter merken, daß es sich bei dem Traum um etwas
Ungewöhnliches handelt. Und wie alle Züchter wird er
garantiert nicht auf eine Chance verzichten, ein paar
zusätzliche Furniere aus seiner Situation herauszupressen. Also,
wird der Mann seine ersten kleinen Ernten nehmen und sie ins Klo
runterspülen? Ha! Es kommt gar nicht drauf an, wieviel er
bezahlt kriegt, um seinen Garten unter Verschluß zu halten. Er
wird diese Früchte auf die Zephapfel-Festivals schmuggeln und
sie an die meistbietenden Alptrinker verkaufen. Wir eröffnen die
Jagd, indem wir dafür sorgen, daß unser Mr. Rondo einer
der meistbietenden Alptrinker ist.«
    Danach legten wir den Rest des Weges ohne ein weiteres Wort
über Alptrinker, ohne weitere Prahlerei über das Vernichten
von Todesbäumen zurück. Die Entfernung zwischen uns und
Urillas Wohnung wurde mit dem erfreulicheren und vertrauteren Thema
der Bereinigung des Vergangenen gefüllt. Im Lauf dieser
Unterhaltung deutete Urilla nicht nur ein oder zweimal, sondern
dreimal an, daß sie hoffte, unsere ›Beziehung‹
würde Wiederaufleben, und daß sie mich nie für Toland
Barnes fallengelassen hätte, wenn sie ›die Vergangenheit
wieder ins Lot bringen könnte, wie unsere Freundin Sallie
Sequenzia‹.
    Der menschliche Körper ist ein paradoxes Medium; er ist
gleichzeitig öffentlich und privat, und er wird die Spuren
derjenigen, die sich mit ihm vergnügen, niemals wieder
vollständig los. Als ich Urilla nackt sah – ihre nunmehr
älteren Brüste waren von Adern gestreift, die wie
Ablagerungen eines wundersamen blauen Edelsteins wirkten –,
begriff ich, daß ich Mitglied in einem Club war, dessen anderen
Mitgliedern ich wahrscheinlich nie begegnen würde. Ihre
früheren Liebhaber riefen keine Eifersucht in mir wach, nicht
einmal Toland. Ich empfand ein seltsames, gespenstisches
brüderliches Einvernehmen mit ihnen.
    Wahrscheinlich sind sich die Menschen in Augenblicken der Lust
ähnlicher als zu jeder anderen Zeit.
    Ich verbrachte die Nacht auf einer Matratze, die mit Urillas
unvollendeten Zephapfel-Webbüchern gefüllt war. Auch
diesmal suchte mich der lauernde Lügner wieder im Schlaf heim.
Auch diesmal behauptete die Gestalt mit dem Umhang wieder, daß
ich

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