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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Äpfel waren Kunstwerke.
    Meine Blindheit wich bald einer Vision, die nur Form ohne jeden
Inhalt war. Ich sah keine Dinge; ich sah das Sehen. Auch fühlte
ich mich durch meine Taubheit keineswegs depriviert. Diese
Anhängsel namens Ohren hatten schlicht und einfach nie
existiert.
    Nun verstehen Sie wohl, warum es sowohl gesetzwidrig als auch
unklug war, außerhalb der Salons zu träumen.
    Dann Hitze, eine Welle nach der anderen. Ich hatte das
klimatisierte Kathexis offiziell verlassen und war unwiderruflich in
die Geschichte übergetreten. Die Hitze rollte wie kochend
heißer Tau über meine Haut. Mein Sehvermögen kehrte
zurück, und der Grund für die Hitze wurde klar: Die
Kröte der Nacht begann in einem schwülen Dschungel.
    Ich stand neben dem Rumpf eines Raumschiffs, einer goldenen Kugel,
die zwischen Schlingpflanzen und Farnen aufschimmerte. »Die
Kröte der Nacht«, drang eine volltönende Stimme an
mein ohrenloses Gehör. »Drehbuch: Fauver Yost. Weber:
Rudolf Muschelfüller. Pflanzerin: Pamela Bosque.«
    Der Zephapfel gab mir Informationen. Ich war ein gertenschlankes
Mädchen, das gerade mit Macht in die Pubertät kam. Ich war
eine Prinzessin und obendrein schön und klug. Während ich
gerade das Regulus-System erforschte, war ich in einen
Meteoritenschwarm geraten und mit meinem ramponierten Schiff auf dem
ersten erreichbaren Planeten gelandet. Nun war es meine Aufgabe, auf
dieser unbekannten Welt zurechtzukommen und mich so gut wie
möglich durchzuschlagen, bis ich das Rohmaterial beisammen
hatte, das ich brauchte, um den Schaden zu reparieren.
    Ach du liebes bißchen, begann mein Quinjin-Ich zu
stöhnen. Eine gottverdammte Space Opera.
    Ich streifte durch den Dschungel und vollbrachte die üblichen
Heldentaten: Ich erschlug Schlangen, zerschmetterte Skorpione und
überlistete Kannibalen, all sowas halt. Diese ganzen Klischees
wurden zum Teil durch die Überzeugungskraft wettgemacht, mit der
Traumweber Muschelfüller mich in eine Zwölfjährige
verwandelt hatte. Ich fühlte mich wie zwölf, ich erlebte die ersten Regungen der Pubertät –
außergewöhnliche Illusionen, die in Quinjins Kritik
garantiert mit begeisterten Adjektiven bedacht werden
würden.
    Aber Muschelfüllers bester Effekt kam, als der Sumpf
auftauchte. Er gab ihm einen erstaunlichen Geruch. Modrig, aber nicht
unangenehm, anziehend, aber nicht parfümiert. Moos und Ranken
schwammen auf dem blinden, dunklen Gewässer. Es dauerte nicht
lange, da bemerkte ich, wie eine Reihe von Luftblasen zur
Oberfläche aufstiegen, als ob der Sumpf kochen würde. Die
Blasen waren ein Zeichen von Leben – amphibischem Leben, was
sonst: eine abstoßende humanoide Kröte, die plötzlich
aus dem Wasser hüpfte und zu meinen Füßen
landete.
    Die vorstehenden Augen der Kröte waren die ersten beiden
Dinge, die mir an ihr auffielen. Das dritte war ihre Haut: braun,
runzlig, ein Gelände voller verschlammter Bachläufe und
warziger Hügel. Ihr von Schleim verschlossenes Maul ging von
einem Ohr bis zum anderen.
    Das Maul öffnete sich. Das Geschöpf sprach.
    Er sei der König dieses Planeten, sagte der Kröterich.
Er habe Macht, unermeßlichen Reichtum und Sklaven. Die
Reparatur meines Schiffes sei für ihn eine Gefälligkeit,
die ihn nicht mehr koste als ein Schnippen seiner mit
Schwimmhäuten versehenen Finger.
    Aber ich müsse ihm etwas versprechen. Irgendwann in der
Zukunft würde ich ihn zum Mann nehmen und mit ihm zusammenleben
müssen. Da ich annahm, daß die Kröte das für
einen Scherz hielt, stimmte ich zu.
    Quinjin stieß einen Laut des Entsetzens über meine
Naivität aus.
    Zuhause reifte ich zur Frau heran. Aus Anlaß meines
sechzehnten Geburtstags fand im Palast meines Vaters ein rauschendes
Fest statt. Mitten beim Nachtisch erzitterte der Bankettsaal unter
den dumpfen Schlägen des Türklopfers. Der Hofnarr
verstummte mitten in einem Witz. Als ein Diener die Tür
öffnete, fiel das Licht dreier Monde in den Palast.
    Ein Sprung, und die Kröte der Nacht war diesseits der
Schwelle. Ein zweiter Sprung, und sie war im Bankettsaal. Ein
dritter, und sie saß auf dem Tisch und erzählte meinem
Vater ruhig von den Einzelheiten unserer Vereinbarung.
    Er sei gekommen, sagte der Kröterich, um sich zu holen, was
ihm zustünde.
    Abgemacht ist abgemacht, war die Reaktion meines Vaters.
Charakterzeichnung war noch nie die starke Seite der
Märchen.
    So begann ich mit einem Ungeheuer zusammenzuleben. Mit jedem
verstreichenden Tag und besonders mit jeder Nacht

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