Der Kontinent der Lügen
verdoppelte sich
mein Abscheu. Schließlich konnte ich es nicht mehr
aushalten.
Das erste Licht der Dämmerung tastete sich in den Palast. Der
Kröterich schlief neben mir. Ich band die Laken zusammen,
verschnürte das Bündel mit einem Strick, verfrachtete das
verhüllte Geschöpf in einen luftdichten Sarg und warf das
Ganze in einen Sumpf, der einige Ähnlichkeit mit der
natürlichen Umgebung der Kröte hatte.
Innerhalb von ein paar Stunden bekam ich jedoch heftige, stechende
Schmerzen, als ob ich schwanger wäre – mit Abstand die
beste Simulation von Schmerzen, die mein Quinjin-Ich während
eines Zephapfeltraums je erlebt hatte. Es war das Gewissen der
Prinzessin, das darum rang, geboren zu werden. Von Reue
geschüttelt, rannte ich zum Sumpf zurück, tauchte hinein,
holte den Sarg heraus und hob den Deckel hoch.
Sobald die Kröte der Nacht ihre Glubschaugen aufschlug, wurde
ich von Freude überwältigt. Ich begann ihre Höcker zu
küssen, einen nach dem anderen – woraufhin sie sich
natürlich in einen hübschen Prinzen verwandelte.
Die Hochzeit kostete meinen Vater mehr als nur ein kleines
Vermögen.
»Ende«, sagte eine Stimme.
Und ich war wieder Quinjin.
Als ich wieder im Troglobus saß, versuchte ich, mir ein oder
zwei knackige Sätze für meine Serie über Suzie Freed
und die Traumzensur zurechtzulegen. »Eins ist sicher: Unsere
Kultur ist am Ende, wenn wir beschließen, Zephäpfel als
Herren unseres Schicksals und unserer Seelen zu betrachten.«
Klang ziemlich gut, fand ich. »Wenn Die Kröte der Nacht Suzie Freed >dazu gebracht< hat, ihren Bruder zu
töten, warum hat sie dann das Kind, das neben ihr saß,
nicht ›dazu gebracht‹, das gleiche zu tun? Warum hat es
keine Epidemie von Brudermorden gegeben?« Nicht schlecht.
Der Bus hielt ächzend an, und ich schlüpfte
umständlich auf den Bahnsteig hinaus. Flankiert von einer
Zeichentrickwerbung für Deokapseln und einem Plakat von Altäre des Herzens, zeigte mir ein Infobildschirm sein
schlafendes Glasgesicht. Ohne mir viel dabei zu denken, warf ich ein
paar Münzen ein und rief die letztwöchige Ausgabe von Traumkapseln Entschlüsselt auf. Ich gab dem Gerät
Gelegenheit, ein paar Sekunden im Schnelldurchlauf-Modus zu
rödeln, indem ich ihm befahl, sich allmählich zu meiner
Kritik einer Wexel-McPoon-Retrospektive vorzuarbeiten, die
kürzlich gelaufen war. Wexel McPoon gehörte zu den Leuten,
die ihre Werke in dem Traumkapselgenre verbrachen, das ich am
wenigsten mochte, der Avantgarde. »Unter den Kapselfreaks macht
in diesem Monat ein Spruch die Runde«, las ich meine Worte laut
und mit wachsendem Unbehagen. »›Wie bohrt man ein Loch in
einen Diamanten?‹ Und die Antwort lautet: ›Indem man mit
dem Loch zu einer Wexel-McPoon-Retrospektive geht.‹«
Nun glauben Sie wahrscheinlich, daß man als Traumkritiker
einen echten Traumjob hat, aber soweit es mich betraf, war es eine
Situation, in der man bestenfalls Pyrrhussiege erzielen konnte. Wenn
man darauf verzichtete, einen Weber wie McPoon niederzumachen,
riskierte man, bei den Lesern Wischiwaschinormen und allgemeine
Schläfrigkeit zu kultivieren. Aber wenn man zu weit ging, konnte
man ein hoffnungsvolles Talent in unproduktive Verzweiflung
stürzen. Als ich meinen Wexel-McPoon-Artikel geschrieben hatte,
war er mir instruktiv und geistreich erschienen, aber jetzt kam er
mir nur grausam vor.
Auf dem Weg durchs Foyer zu meiner Wohnung wurde mir klar,
daß es einfach nicht ausreichen würde, SUPEREGO mit
Sarkasmus und schnoddrigen, wegwerfenden Bemerkungen zu attackieren.
Nein, ich würde mich auf den Sinn der Kröte der Nacht konzentrieren müssen – auf den geschickt dramatisierten
Übergang von einer Einstellung zur Sexualität zu einer
anderen: Während sie anfangs als geheimnisvoll und
abstoßend empfunden wird, ist sie am Schluß etwas
Natürliches und Wunderbares. Auf diese Weise würde ich
aufzeigen, daß SUPEREGO mit seiner Kritik an der
Gewalttätigkeit des Traums und dessen angeblicher Wirkung auf
Suzie Freed völlig danebenlag. Als ich bei meiner
Wohnungstür ankam, war ich so weit, daß ich ganze
Absätze einer Polemik in meine Denkmaschine eingeben konnte.
In diesem Moment geriet das Universum aus den Fugen.
Die gleiche Tür, die ich gründlich abgeschlossen hatte,
als ich zum Kathexis aufgebrochen war, stand jetzt offen; dahinter
lag mein dunkles, fensterloses Wohnzimmer. Diebe!
Diebe? Warum war dann das Licht aus?
»Hallo?« Die Stimme hatte nichts Organisches
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