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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Marionette gekommen
wäre.
    »Wen haben wir denn da?« fragte Jonnie.
    »Den Vorarbeiter«, sagte der Mann. »Ich habe
geschlafen«, setzte er hinzu.
    »Tut mir leid«, sagte Iggi.
    »Ihr habt mir einen Gefallen getan. Ich hatte einen
schrecklichen Traum. Einen richtigen schrecklichen Traum,
meine ich. Nicht…« Er zeigte auf eine Traube von lauernden Lügnern in der Nähe.
    Wir nickten wissend.
    Der Vorarbeiter richtete sich auf, aber das brachte nicht viel. Er
war klein und mager und hatte etwas von einem Gibbon. Sein Gesicht
sah zerknautscht aus, war jedoch ansonsten ein angenehmes Ensemble
sanfter Augen, dünner Lippen, zarter Nasenflügel und
buschiger Brauen. Falls er ein Rasiermesser oder eine Nähnadel
besaß, so hatte er vor langer Zeit vergessen, wo er sie
hingetan hatte, so struppig war sein Bart und so zerrissen war sein
Fadenwurmparka. Moosteile sprossen aus seinen Haaren, Schultern,
Händen und Knien.
    »Sucht ihr Arbeit?« quiekte der Vorarbeiter.
»Vergeßt es. Ich wäre schon längst nach Hause
gegangen, aber das ist in meinem Fall eine schäbige kleine
Hütte mit leckendem Dach und einer Frau, die immer recht hat,
und außerdem kann mich der Vermieter nicht leiden. Also bin ich
ins Exil gegangen. Ist ein besseres Leben hier als da oben, viel
besser. Im Fluß gibt’s massenhaft Nahrung.«
    »Nein«, übersprang ich seine Autobiographie, um
wieder auf seine eigentliche Frage zurückzukommen. »Wir
wollen keine Arbeit.«
    »Wenn ihr kein Treibgut seid, was dann? Spione? Na, dann
macht euch mal auf den Rückweg nach Gidim-Xul und geht zu
Atropos, Primrose Lane Nummer 2703. Sagt ihm, daß ihr’s
direkt von Flick Longslapper habt, denn von dem hört ihr’s
gerade. Alles geht zum Teufel, das könnt ihr Atropos sagen. Die
Hamadryade wird heranreifen, aber es ist niemand da, der die Ernte
einfährt. Und wenn das Atropos und seinem Weberfreund nicht
gefällt, dann können sie hier runterklettern und die
Früchte selber pflücken!«
    »Atropos ist tot«, sagte ich.
    Flick Longslapper investierte gewaltige Energiemengen, um ein
Lächeln zu unterdrücken. Es war, als ob man jemanden dabei
beobachtete, wie er sich bemühte, nicht zu niesen.
Schließlich gab er sich geschlagen, und seine hübschen
Zähne strahlten plötzlich auf wie polierte Juwelen.
»Tot? Wirklich? Tot? Sieh an, sieh an. Tot.« Das
Lächeln begann langsam zu verebben, und die gewohntere Mixtur
aus Argwohn und Nachdenklichkeit kam wieder zum Vorschein. »Wenn
Atropos nicht mehr lebt, warum seid ihr dann…?«
    »Wir sind hier, um die Hamadryade umzubringen«, gab
Jonnie unumwunden zu.
    Eine absolut verständliche Mischung aus Verwirrung und
Empörung breitete sich auf Flicks Gesicht aus. Schließlich
war der Todesbaum seine Eremitenheimat, seine Welt, und da kamen wir
an und erklärten so ganz nebenbei, daß wir ihn
zerstören wollten. Aber dann erzählte ich ihm die
Geschichte von Lilit, wie sie den Apfel gegessen hatte, erzählte
sie mit soviel Gefühl und Rechtschaffenheit, wie mein Vokabular
hergab, und vergaß auch nicht, ein paar Schluchzer
einzuschieben.
    »Also sind Sie auf Rache aus«, war Flicks erste
Reaktion.
    »Auf Rache«, nickte ich, »und mehr. Solange die
Hamadryade lebt, liegt ihr Schatten über der gesamten Galaxis.
Und dann ist da noch was…« Ich erzählte Flick von
Marta Rems Behauptung, daß die Hamadryade einen Schatz
bewachte, und gestand meine Hoffnung, daß der Schatz das
Heilmittel für Lilit sein würde.
    »Geben Sie mir eine Minute«, sagte der Vorarbeiter.
    Es war eine lange Minute. Sirup tropfte aus einer kalten Flasche.
Schnecken krochen über Kleister.
    Die Last, eine moralische Entscheidung treffen zu müssen,
schien den kleinen Flick noch weiter zu Boden zu drücken.
»Was Sie tun, ist richtig«, sagte er
schließlich. »Diese Frucht – guter Gott, ja –
ist ein übles Ding, wirklich übel. Aber wenn Sie wirklich
vorhaben, das Biest zu töten, dann müssen Sie
über seine geistigen Kräfte Bescheid wissen, so wie ich es tue. Sie werden mich brauchen, meine Herren.«
    Déjà vu. Baptizer Brown, der sich uns als Fachmann
aufgeschwatzt hatte, um uns in die Irre zu führen.
    Aber da gab es einen Unterschied. Brown hatte mir vom ersten
Augenblick an Angst eingejagt. Der schmächtige kleine Flick mit
seiner Falsettstimme dagegen hätte kein Huhn erschrecken
können. Der verletzliche, vorsichtige, zwergenhafte,
nervöse, ätherische Flick. Aber war er auch ehrlich?
Sollten wir ihm vertrauen? Unmöglich zu

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