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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Erinnerung an die Sonne. Aber das Licht wurde mit jeder
verstreichenden Stunde heller und überzeugte uns davon,
daß wir den geographischen Tautologien des Kontinents endlich
entkommen waren. Wir frohlockten, daß die dunkle Krone der
Hamadryade ein für allemal hinter uns lag, packten unsere
Leuchtkugeln ein und gingen weiter.
    In der Galaxis gibt es Orte, die man als tropische Paradiese
bezeichnet. Königin Hamadryade herrschte über eine
tropische Hölle. Die kleineren Zweige des Todesbaums reckten
sich zu allen Seiten in einen steinernen Himmel, ein Streben, das von
großen, knotigen Ranken vereitelt wurde. Blumen blühten an
den Ranken, Blumen, die Gesichter waren, von Schmerzen und defekten
Genen entstellte Gesichter. Die Ranken wogten wie die Wimpern eines
riesigen Pantoffeltierchens. Wie es für ihre Gattung üblich
war, hatte die Hamadryade keine Blätter, aber ihren Ästen
mangelte es nicht an Chlorophyll. Sie waren von Moos bedeckt, einer
grünen, pelzartigen Masse, die ich zuerst für eine
Pflanzenkrankheit hielt, die von einem äußeren
Schädling verursacht wurde. Ich sah genauer hin. Das Moos
stammte vom asteigenen Xylem; es quoll durch Risse in der Borke und
umschloß die Lotoskapseln, wie ein lebendes, intelligentes Nest
Eier umschließen mochte.
    Die Hamadryade: der Ein-Baum-Dschungel.
    Der Ast, auf dem wir uns nun vorwärtsbewegten, war so riesig,
daß ich seine wahren Dimensionen wohl mit dem Geist, nicht aber
mit dem Auge erfassen konnte. Er war eine Landebahn für
Raumarchen. Er war eine zylindrische kleine Welt, mit Horizonten und
allem. Er war ein riesiges kosmisches Rohr, die Kloake des
Empyreums.
    Wir waren Forschungsreisende in einem wilden Land, und so
versuchten wir, es mit Namen zu zivilisieren. Zu unserer Linken
erhoben sich steile schwarze Felswände hinter dem Gewirr der
Zweige und Ranken der Hamadryade, und es dauerte nicht lange, da
nannten wir dieses Landschaftsmerkmal Cronus-Klippen, als ob es uns
eine Karte so befohlen hätte. Schlammparadies war unser
zynischer Name für das Sumpfgebiet, das sich zu unserer Rechten
erstreckte und als wirres Durcheinander von Sümpfen und
Unterholz über unseren Gesichtskreis hinausreichte. Ein
Fluß durchschnitt das Schlammparadies, ein breiter, gewundener,
gallendunkler Kanal, über dessen Ingredienzien ich nur
Vermutungen anstellen konnte. Wasser? Saft? Leckender Saft und das
Blut toter Tiere, die zu einem vinu, sanguinis geronnen waren?
Von ihrem eigenen Gewicht geerntet, schwammen Hunderte von
Lotoskapseln auf der Oberfläche, und wir wußten, daß
der Name Lethe – der Fluß des Vergessens – der einzig
Passende war.
    Wir einigten uns auf einen Kompaß. Per Beschluß lagen
die Cronus-Klippen im Norden. Folglich floß der Lethe von
Westen nach Osten. Was den Süden anging, so war dort nicht nur
das Land des Schlammparadieses, sondern auch das Licht.
    Selbst jetzt, wo ich diese Memoiren schreibe, weiß ich nicht
genau, wie groß der feurige Gasball war, warum er leuchtete
oder was ihn in der Luft hielt. Ich weiß nur, daß wir ihn
Gishbar nannten, nach einem alten Feuergott. Gishbar hing über
uns wie ein stehengebliebener Komet und verwandelte das Nest der
Hamadryade in eine Nachtsonnenwelt.
     
    An diesem Abend schien nichts unter der Nachtsonne anders zu sein
als sonst. Das Chronamulett verkündete, daß es genau
zweiundzwanzig Uhr war, und unsere steifen Muskeln bestätigten
es. Iggi baute das Zelt auf. Jonnie focht mit seinem Schwert gegen
Ranken. Der Lethe gurgelte. Bis jetzt unterschied nur wenig diese
Nacht von den Dutzend anderen, die zuvor verstrichen waren.
    Irgendwann während unseres Marschs über den großen
Ast hatten Jonnie und ich entdeckt, daß das Schlafen im Moos
ein Vergnügen war; es ließ sich durchaus mit der Benutzung
von Wasserbetten und Pelzbarsch-Swimming-pools vergleichen. Unsere
Schlafhüllen hatten wir schon längst in den Fluß
geworfen. Als ich einen passenden Haufen des Materials auf einem
Seitenzweig ausmachte, begann ich es zu einer Kugel zu rollen, so wie
Kinder Schnee rollen, um einen Schneemann zu bauen. Ich kam nicht
weit. In dem Moos lag jemand.
    Da ich nicht wußte, ob ich einen Freund, einen Feind oder
einen lotoskapselschluckenden Irren entdeckt hatte, rief ich Jonnie
und Iggi zu mir.
    »So, habt ihr mich also gefunden«, sagte der Mann,
während er sich wie ein Küken freikämpfte, das sich
aus einem Ei herauswühlte. Seine Stimme hätte wesentlich
weniger seltsam geklungen, wenn sie von einer

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