Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
Hamadryade«,
erwiderte er müde.
    Zurück zur Jagd.
    Der Tunnel verengt sich: So erklärte ich mir anfangs meine
Klaustrophobie. Ein Kontextfehler. Tatsächlich wurde der Ast
dicker. Während ich mich in Gegenrichtung zu seiner
Verjüngung bewegte, begann ich mir Sorgen zu machen, daß
er den Tunnel bald vollkommen verstopfen und uns in einer Sackgasse
viele Kilometer von der verwundbaren Pfahlwurzel entfernt den Weg
abschneiden würde. Der Ast nahm den Umfang eines
Mammutbaums… eines riesigen Blasenbaums… eines
Pottwals… eines Grorgs an.
    »Halt!«
    Zugleich mit Jonnies Ausruf schlug Lilits Chronamulett die
Mittagsstunde. Klong, machte es. Und klong, und klong – zwölfmal, weil die Umdrehung des Planeten
Uggae so erdähnlich war, daß man die gängigen
Eichungen hier einfach übernahm.
    Iggi und ich schlossen zu Jonnie auf und spähten nach vorn,
woraufhin uns die Klugheit seines ›Halt!‹-Rufs deutlich
wurde.
    Der Boden war fort. Vor uns gähnte ein ungeheurer Abgrund.
Der Ast der Hamadryade bog abrupt nach unten ab und verschwand in
einer Dunkelheit, die unsere Leuchtkugeln nicht ergründen
konnten.
    Meine erste Reaktion war so etwas wie ein rückwirkendes
Erschrecken in bezug auf Lilit. Nur pures Glück hatte
verhindert, daß Rudd und sie ihre Untersuchungen bis zu dieser
Stelle ausgedehnt hatten; vor meinem geistigen Auge sah ich, wie sie
den Rand des Abgrunds übersahen und schreiend in den sicheren
Tod stürzten. Meine zweite Reaktion bestand darin, einen losen
Stein in die Leere zu kicken und zu fragen: »Und was nun? Sitzen
wir fest?«
    Jonnie antwortete darauf, indem er an dem Ungeheuer hochzuklettern
begann. Die zahlreichen Knoten boten den Füßen
hervorragend Halt, und er war in weniger als einer Minute oben.
    Jetzt begann Iggi auf den Ast zu steigen.
    Und schließlich – nach zwei mißlungenen Starts
und einer Masse von Ratschlägen seitens meiner Freunde –
stand ich ebenfalls auf der Hamadryade.
    Aus der warmen, gummiartigen Rinde drangen die Energien des
Todesbaums durch unsere Stiefel in uns ein. Wir konnten die
Wärme seines Saftes, das Pochen und Pulsieren seiner
Gefäße, das elektrische Summen seiner Nerven spüren.
Wir drehten unsere Leuchtkugeln auf volle Stärke, so daß
wir aus Angst vor Netzhautverbrennungen nicht in ihren Mittelpunkt zu
blicken wagten, und machten uns auf den Weg. Im Gänsemarsch
gingen wir auf der Hamadryade entlang.
    Das Leben wurde angenehmer. Mit jedem Schritt ließ der Wind
nach, und die Luft wurde wärmer. Die Dunkelheit verlor ihre
Intensität; sie ergab sich unseren Lampen. Winzige gelbe
Vögel zirpten allerliebst. Und das beste war, daß sich der
Ast nur leicht und geradezu anmutig neigte. Solange der Baum nichts
von unserer Anwesenheit merkte, würden wir nicht in den Abgrund
geschleudert werden.
    Sechs Stunden, nachdem wir den Ast bestiegen hatten, erwies er
sich bloß als Nebenarm des Gesamtsystems und verschmolz mit
einem viel größeren Ast. An der Einmündung lag ein
großes Rindendelta, und hier beschlossen wir unser Lager
aufzuschlagen. Obwohl Schlaf nicht zu seinen psychobiologischen
Bedürfnissen zählte, erklärte sich Iggi bereit, das
Zelt aufzubauen. Bald darauf klebte die weiße Stoffpyramide an
der Hamadryade wie ein Kokon an einem Baum von orthodoxeren
Ausmaßen.
    Jonnie und ich schlüpften in unsere Schlafhüllen und
schlossen die Augen. Stille senkte sich auf unser Lager.
    Zum erstenmal seit Monaten hatte ich wieder meinen periodisch
auftretenden Alptraum. »Du wirst meine Lotoskapsel niemals
ergründen, Schläfer«, sagte der lauernde Lügner.
»Du wirst deine Tochter niemals aus meinem Traum befreien«,
behauptete das unbarmherzige Trugbild.
    Warum ist die Seele so grausam zu sich selbst?
     
    Die nächsten Tage waren so gleichförmig und ohne jede
Überraschung, daß sie von einer Maschine ausgestanzt zu
sein schienen. Wenn Lilits Chronamulett verkündete, daß es
Tag war, marschierten wir den Ast hinunter, und wenn es die Nacht
einläutete, schlugen wir unser Lager auf. Die Extremitäten
des Todesbaums gingen weiterhin ineinander über. Jedesmal wenn
wir glaubten, auf einem Hauptast zu sein, der uns direkt zum Stamm
führen würde, erwies er sich nur als ein weiterer
Nebenzweig. Wir hatten Angst, in einem Labyrinth gefangen zu
sein.
    Nur eine Tatsache hielt unseren Korpsgeist aufrecht: Wir bewegten
uns auf ein Licht zu. Es war kein helles, religiöses Licht,
sondern zunächst nur ein bernsteinfarbener Schimmer, eine
dunstig-ferne

Weitere Kostenlose Bücher