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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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zu, dessen große Segelohren in diesem
Kontext auch nicht im mindesten komisch wirkten und dessen
offenkundige Autorität über den Rest des Stammes mich dazu
veranlaßte, in ihm den Häuptling zu sehen. Der
Häuptling fragte mich, ob ich baden wolle. Ich sagte ja. Als er
es unterließ, dieses Angebot auch Iggi zu machen, wußte
ich, daß er den Roboter für seinen scheinbaren Trotz
bestrafen wollte. Iggi grinste nur.
    Ich wurde durch das Tor und den Dschungel zum Fluß
geführt, wo ich meine Kleider auszog und mir den Schmutz
abwusch, den meine körperliche Reaktion auf noch nicht lange
zurückliegende Akte der Verblendung hinterlassen hatte. Ein paar
Meter entfernt lag ein großes Moospolster auf dem Sand und
briet in der Sonne. Krebse staksten langbeinig durch das Moos; meine
Haut kribbelte. Gleich darauf wurde mir bewußt, daß ich
unser Skiff anstarrte, das von den Pflückern raffiniert getarnt
worden war. Sollte ich um Hilfe schreien? Die Heckensicheln sagten
nein.
    Nun könnte man annehmen, mein seelischer Zustand zu diesem
Zeitpunkt sei ein unbeschreibliches Amalgam von Wahnsinn und
Entsetzen gewesen. Und so war es auch. Aber diese Gefühle wurden
von einer eisernen Entschlossenheit überlagert, die Oberhand zu
gewinnen – nicht nur über die Lotosschlucker, sondern
über die Hamadryade und Lilits Krankheit und sogar über den
Weber, der den Samen hergestellt hatte. So kam es, daß ich mit
einem festen, aufmunternden und optimistischen »Gut!«
reagierte, als mich die Pflücker zu meinem Pfahl
zurückbrachten und Iggi im Flüsterton verkündete,
daß er einen Plan für unsere Rettung hätte.
    »Ich bin ja eigentlich ein Spion«, begann Iggi.
    Meine Augen hoben sich in stummem Sarkasmus zum Himmel.
»Ach«, sagte ich spöttisch. »Ist das
wahr?«
    Aber dann offenbarte mir Iggi seinen Plan, der eindeutig auf
seinem ererbten Spionagetalent basierte, und der Plan war wirklich
gut.
     
    Der Häuptling, dessen Segelohren in einem warmen Wind
flatterten, führte höchstpersönlich die Oberaufsicht,
als wir von den Pfählen losgebunden wurden und unseren kurzen
Marsch zum Freilufttempel antraten. Zehn Hände schlossen sich
wie organische Handschellen um meine Arme. Die Tänzer begannen
mit ihrem libidinösen Ballett, wobei sie Staub aufwirbelten, den
der Wind direkt zu mir hertrug. Ich hustete. Die Show war um einen
neuen Akt bereichert worden, einen mißtönenden,
heidnischen Singsang, eine kreischende, arteigene Reminiszenz an das,
was unsere terranischen Vorfahren am Lagerfeuer gesungen hatten, um
die Erfindung von Mord und Totschlag zu feiern. Die Trommeln tschungara ten.
    Von Anfang an ging alles schief. Iggi bekam den Dolch in die Hand
gedrückt, während unser Plan erforderte, daß ich die
Opferung vornahm. Bevor ich jedoch auf die Platte gebunden werden
konnte, riß sich der Roboter los, ließ den Dolch fallen
und warf sich lang auf den Stein. Es war die perfekte Darbietung
eines meisterhaften Mimen, und er ließ ihr genau die richtigen
Worte folgen.
    »Nein!« rief der Roboter. »Nehmt mich! Ich gebe
mein Herz freiwillig hin! Voller Freude will ich Goth
nähren!«
    Die Pflücker waren beeindruckt. Sie banden ihn fest.
    Die Priesterin malte ihm einen Schlüssel auf die Brust.
    Ich probte meine Rolle in dem bevorstehenden kurzen Stück
innerlich mit solcher Konzentration, daß ich nicht merkte, wie
ich den Apfel und den Dolch bekam. Aber da waren sie; der lauernde
Lügner lag in meiner linken, die Waffe in meiner rechten
Hand.
    Nun hörte das Tanzen, das Singen und das Getrommel abrupt
auf, und ein vorhersehbares, klar verständliches Gebrüll
– Iß Gott! Iß Gott! – hüllte mich
wie eine Brandungswoge ein. Ich machte den Mund auf, steckte die
Kapsel hinein und tat so, als ob ich kauen würde. Iß
Gott! Meine Zähne streichelten die Schale, ohne sie zu
punktieren – wie vorsichtig ich war! Dann eine
Fehleinschätzung, und der Traum hatte ein Loch. Vitriol, das
durch meine Kehle rann, hätte nicht schlimmer sein können
als dieser Nektar. Gott sei Dank schloß sich das Loch von
selbst, und die Moleküle, die mein Gehirn erreichten, bewirkten
keine Amnesie, keine unfreiwillige Ausräumung des Zweifels. Ich
sah kurz den lauernden Lügner rittlings auf seiner Ziege, aber
es war ganz trübe und geisterhaft und weitaus weniger real als
die Wirklichkeit.
    Zwanzig Minuten lang stand ich über Iggi, stand im Wind mit
einem Apfel im Mund. Ich erkannte, daß die zufällige
Freisetzung einiger Tropfen ein Glück

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