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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Frau, deren Haar Rapunzel
alle Ehre gemacht hätte, losgebunden und zum Altar geschleift.
Dicke, überfütterte Sehnen traten bei dem halben Dutzend
Pflücker hervor, die Rapunzels Körper flankierten und
zwischen sich festhielten. Sie war nicht freier als der mit
gespeizten Armen und Beinen daliegende Mann, über dem sie stand.
Sie musterte den aufgemalten Schlüssel.
    Die maskierte Priesterin gab Rapunzel einen Dolch mit
Sägeblatt, dessen Griff mit Juwelen besetzt war, die wie Augen
aussahen. Ich kannte diesen Dolch. Ich hatte seinen Prototyp benutzt,
als ich den lauernden Lügner geträumt hatte.
    Jemand anders gab Rapunzel eine Lotoskapsel.
    »Iß Gott!« intonierten die Pflücker.
»Iß Gott! Iß Gott!«
    Rapunzel aß Gott. Ihre Sippe begann Wache zu halten.
    Die Tänzer standen da und starrten Goth an. Sie warteten.
    Die Trommler kauerten über ihren Trommeln. Sie warteten.
    Das Opfer zitterte auf dem Altar. Es wartete.
    Nur die Henkerin wider Willen schien ganz lebendig zu sein. Als
der lauernde Lügner in sie eindrang, stöhnte sie auf
und erzitterte. Von ihrem rastlosen Dolch sprühten kleine
Sonnenfunken.
    Schweißspuren liefen kreuz und quer über mein Gesicht.
Die Luft fühlte sich wie Kleister an.
    Schließlich kam die Zeit der Lügen, die Zeit der
Täuschung, der Moment, wenn ein Träumer des lauernden
Lügners sich gezwungen sieht, auf der Suche nach dem
Schlüssel, der ein geliebtes Wesen retten kann, eine Ziege zu
opfern. Ich werde das grausige Geschehen so kurz gefaßt wie
möglich schildern. Ich werde dreiunddreißig Worte
dafür erübrigen, nicht mehr…
    Rapunzel… stößt Opfer Messer in Brust…
sägt… um Schlüssel herum… holt schlagendes Herz
heraus… wirft Herz Priesterin zu… Priesterin legt Herz ins
Maul des Götzen… Herz rutscht steinernen Schlund
hinunter… flüssiges Echo… Stille.
    »Kein Schlüssel!« schrie Rapunzel. »Kein
Schlüssel! Kein Schlüssel!«
    Ich machte mir in die Hose.
    Schweiß, Erbrochenes, Urin, Kot und sogar Blut…
letzteres aus einer selbst beigefügten Wunde an der Zunge.
»Iggi!« schrie ich. »Iggi! Du mußt mich hier
rausholen! Iggi!«
    »Ich höre dich ja.« Iggi sprach langsam. Sein Blick
war auf die schlafende Rapunzel gerichtet. Sie war jetzt am Ende
ihres Alptraums angelangt. Eine Litanei der Loyalität zu Goth
strömte von ihren Lippen. Das Blut an ihrer Brust und ihren
Haaren schimmerte wie Vinyl.
    Ich sah den Toten an, den Mann ohne Mitte. »Laß dir was
einfallen!«
    Rapunzels Benehmen in diesem Augenblick verstärkte nur meinen
Gesamteindruck von einer Galaxis, die in Barbarei und Wahnsinn
verfallen war. Als sie erwachte und sah, was sie getan hatte, rannte
die arme Frau zum Tor der Einfriedung, stieß es auf und hastete
in den Dschungel. Da niemand sie wieder einzufangen versuchte, nahm
ich an, daß sie ihre Sünde durch die Teilnahme an dem
Abendmahl und den Sturz in geistige Umnachtung in den Augen ihres
Stammes abgebüßt hatte.
    »Ich habe ja vor, mir was einfallen zu lassen, Quinjin«,
erklärte Iggi. »Agenten wie ich sind es gewohnt, in solche
brenzligen Lagen zu geraten.«
    »Judas am Krückstock, Roboter, das hier ist keine
Traumkapsel, verdammt noch mal!«
    Aber das stimmte natürlich nicht ganz.

 
11

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Wie man
Wurzeln anlockt

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    Auf Lilits Chronamulett war es sechs Uhr. Tagesanbruch. Das Dorf
erbebte wieder unter dem Getrommel, den Tänzen und dem Geschrei
des Sakraments, und der große Gott Goth wurde aufs neue
gesättigt. Ich schaute nach links: Iggi. Ich schaute nach
rechts: vier leere Pfähle. Es gab keinen Zweifel, wer zur
nächsten Mahlzeit des Götzen ausersehen war.
    In Anbetracht der Grausamkeit ihrer Rituale behandelten unsere
Häscher uns nicht schlecht. Einmal kam eine Frau mittleren
Alters auf mich zu und gab mir Wasser aus einer Schüssel, die
einmal eine menschliche Hirnschale gewesen war. Ein andermal reichte
mir ein junger Mann einen rohen Pflanzenfisch, den ich hastig in
meinen erst kürzlich entleerten Magen hinunterwürgte. Beide
Male wurden die kleinen Stärkungen auch Iggi angeboten, der sie
natürlich ablehnte. Obwohl sein Äußeres mit
unnützen Drähten und dergleichen bestückt war,
schienen die Pflücker nicht zu erkennen, daß mein
Gefährte ein Android war, und sie hielten sein Fasten
wahrscheinlich für einen Versuch, sie zu beschämen.
    Ungefähr eine Stunde, nachdem das zweite Opfer vom Altar
entfernt und über den Palisadenzaun gehievt worden war, kam ein
Pflücker auf mich

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