Der Kontinent der Lügen
wurde wie
jemand, der wegen Hexerei verbrannt werden soll, an einen davon
gefesselt. Hexerei: Der Gedanke beschwor natürlich das Gesicht
meiner Lieblingshexe Urilla herauf, und danach kamen die Gesichter
von Jonnie und Flick. Selbstverständlich konnte es nicht lange
dauern, bis meine Freunde merkten, daß etwas nicht stimmte,
aber das Dorf war so abgeschieden, daß sie bei ihren Such- und
Rettungsoperationen garantiert nicht über die Suche hinauskommen
würden.
Die anderen Pfähle waren auf gleiche Weise mit Beschlag
belegt. An einem hing Iggi, an den anderen Pflücker, zwei Frauen
und zwei Männer. Ich hatte keine Ahnung, welch schreckliche
Sünde oder teuflische Lotterie meine Mitgefangenen in diese
mißliche Lage gebracht hatte.
»Kannst du deine Fesseln zerreißen?« fragte ich
Iggi kurz nach unserer Ankunft im Dorf. Das war keine
wohlüberlegte Frage; es rutschte mir einfach so heraus. Offenbar
war mein Unterbewußtsein emsig damit beschäftigt,
Ausbruchspläne zu schmieden, während mein Verstand wie
betäubt war.
»Ja«, antwortete er, riß zum Beweis einen seiner
Arme los und kratzte sich an der Nase.
»Warum fliehst du dann nicht?« wollte ich wissen.
»Glaub mir, Quinjin, ich habe daran gedacht. Aber leider bin
ich dein Diener.« Er schob seinen freien Arm in eine
Seilschlinge. »Solange du am Leben bist, muß ich
dafür sorgen, daß es auch so bleibt.«
»Hier ist mein Befehl: Geh Jonnie und Flick holen! Sag
Jonnie, er soll sein Schwert mitbringen!«
»In der Zwischenzeit werden sie dich töten«,
erwiderte Iggi in seinem Das-ist-eine-Tatsache-Ton.
»Ich habe den schrecklichen Verdacht, daß dir die ganze
Sache Spaß macht.«
»Was soll ich sagen? Wenn ich gefangengenommen werde,
fühle ich mich wie ein Spion, und wenn ich mich wie ein Spion
fühle, macht mich das glücklich. Das liegt in meinen Genen.
Es gehört zum meiner…«
Die tschungaras schnitten ihm das Wort ab. Die furchtbaren tschungaras, die wir so gut kannten. Vor der hölzernen
Ziege schlugen ein Dutzend Trommler mit Stöcken aus
Schenkelknochen auf Trommeln aus Todesbaumholz ein.
Ein Ritual begann.
Nachdem sie zwei konzentrische Kreise um das Götzenbild herum
gebildet hatten, überantworteten die Pflücker ihre
Körper einem komplizierten Kopulationstanz, für den man
lockere Gliedmaßen und überschüssige Libido brauchte.
Die Kreise drehten sich in entgegengesetzte Richtungen. Arme
peitschten himmelwärts, wie der wogende Tanz von Anemonen.
Münder öffneten sich zu Brunstschreien, gefolgt von Worten,
die mich verstörten, während sie gleichzeitig die
Identität des Götzen enthüllten.
»Mein einziger Gott ist Goth!« versicherten die
Götzenanbeter der Statue. »Mein einziger Gott ist
Goth!« Es war natürlich wie eine unheimliche
Abenteuerkapsel – Pandriacs letzter Azteke kam mir in den
Sinn, ebenso wie Die Maske des Heiden von
Süßmaunzer –, aber es ging noch tiefer; es trug mich
zurück in eine gnadenlose Zeit voller Furcht, bevor die Wilden
edel waren, falls sie das überhaupt je waren, in eine Zeit, als
ein großer Teil des menschlichen Geistes erst noch erschaffen
werden mußte und Vernunft nicht mehr als ein Schimmern im Auge
Gottes war. »Mein einziger Gott ist Goth!«
Ich schaute auf Lilits Chronamulett und sah nur grelles Licht. Ich
verdrehte den Kopf und schaffte es, die unaufhörliche Sonne
lange genug zu verdecken, um zu erkennen, daß es dreiundzwanzig
Uhr siebzehn und vier Sekunden war, mitten in der Nacht.
Ein männlicher Pflücker wurde von seinem Pfahl geholt
und wie ein Stück Fell auf dem Altar festgebunden. Er starrte
Goth direkt an. Panik stand in seinen Augen. Seine Angst war mir
vertraut. Ich hatte sie vor zwei Jahren bei der Ziege in der
Lotoskapsel gesehen, kurz bevor ich sie ausgeweidet hatte.
Eine Pflückerin näherte sich dem Altar. Ihr Kopf war von
einer hölzernen Maske umschlossen, deren Augen Dreiviertelmonde
waren. Rasiermesserscharfe Zähne bewachten ein riesiges Maul.
Die Priesterin – denn um eine solche muß es sich gehandelt
haben – hatte den Schwanz eines Affen in der Hand. Einer aus
ihrer Gruppe hielt ihr einen Keramiktopf voller Schlingbaumharz hin.
Sie tauchte den Schwanz in das Harz und benutzte ihn als Pinsel.
Selbst von meinem ungünstigen Standort aus konnte ich erkennen,
daß der Gegenstand, den sie dem gefesselten Mann direkt
über dem Herzen auf die Brust malte, ein Schlüssel war.
Der gefesselte Mann begann zu wimmern.
Nun wurde eine zweite Gefangene, eine
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