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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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vorbei, ging an Bord und steuerte auf die Gabelung im
Nordosten zu. Die Strömungen erledigten den Rest. Und die ganze
Zeit strömte der Regen herab und machte den Lethe tiefer. Meine
nassen Kleider hingen von mir herab wie Moos von der Hamadryade.
    Als ich mich der Amarant näherte, fielen mir
gleichzeitig mehrere Dinge auf. Erstens: Das Floß war bereits
flott; es war mit einer Trosse vertäut, die von einer Klampe am
Heck in den Fluß hing. Zweitens: Flick war entweder unterwegs,
um mich zu suchen, oder er lag schlafend im Deckhaus. Drittens: Die
Rückkehr von den Toten ist etwas Wundervolles, denn kaum
daß Jonnie mich sah – er war überzeugt gewesen,
daß man mir die Haut abgezogen und sie zu Trommelfellen
verarbeitet hatte –, kam er auch schon angeschwommen, zog mich
aus dem Skiff und küßte mich auf beide Wangen.
    Neuigkeiten. Die Amarant war fahrbereit. Flick war in der
Tat unterwegs, um mich zu suchen. Ich redete kurz mit meinem Freund,
wobei ich unser Martyrium auf die nackten Tatsachen reduzierte.
Sowohl Jonnie als auch ich selbst hatten Iggi gemocht; der
Bluttrinker hatte dem Roboter in letzter Zeit sogar echte Zuneigung
entgegengebracht, und meine Schilderung von Iggis Tod rief eine
Traurigkeit hervor, die nicht so schnell weichen würde, wie ich
wußte. Hinterher schleppte ich meinen ausgepowerten Körper
ins Deckhaus und legte mich hin.
    Obwohl ich nur halb bei Bewußtsein war, entnahm ich den
Geräuschen, die an meine Ohren drangen, daß Flick
zurückkam. An seinem Tonfall konnte ich erkennen, daß der
Vorarbeiter über mein Mißgeschick empört war. Einige
seiner zusammenhängenderen Aussagen: »Ich wußte ja, daß diese Stromschnellen eine idiotische Idee
waren!« Oder: »Ich hab’s ja gesagt, es
würde böse ausgehen!« Ich hätte
zurückschlagen können: »Und ich nehme an, du
wußtest auch, daß ein Unwetter kommen und uns
retten würde!« Aber nach einem Aufenthalt bei den
Lotosschluckern kommt einem so ein rein verbales Geplänkel
langweilig vor.
    Das Geräusch des Regens an den Wänden des Deckhauses,
das bis jetzt ein heftiges Geplätscher gewesen war, entwickelte
sich zu einem gelegentlichen, unregelmäßigen
Tröpfeln. Flick gab Anweisung, den Anker zu lichten. Ich
spürte, wie sich der Lethe unserer bemächtigte, und mein
Wissen, daß wir das Land der wahnsinnigen Pflücker
verließen, ließ mich umso schneller in einen langen,
traumlosen Schlaf sinken.
     
    Die Tage kamen, die Tage gingen, und unsere Welt bestand nur aus
feucht-schwüler Luft, einer heißen Sonne und einem
Fluß, der nur selten eine Biegung machte. Selbst die Natur war
gelangweilt. Keine Insekten suchten in unserem Kielwasser nach
Nahrung, keine Vögel oder Affen protestieren gegen unsere
Durchreise. Nur der gewaltige Ast der Hamadryade, der den Dschungel
an Backbord unaufhörlich umgab, flößte uns die
Zuversicht ein, daß unsere Reise ein Ziel und einen Zweck
hatte.
    Unsere Fähigkeit, einander auf die Nerven zu gehen, steigerte
sich beständig. Mir war noch nie zuvor aufgefallen, wie
geräuschvoll Flick aß, wie primitiv jeder Laut klang, den
er dabei mit den den Zähnen und mit der Zunge machte. Flick
wiederum fiel es schwer, Jonnies Angewohnheit zu ertragen, mit
Exemplaren des lauernden Lügners zu jonglieren.
Währenddessen bewirkte meine Leidenschaft für das
Aufwärmen der jüngsten Eskapaden und meine
Unfähigkeit, mit dem Gejammer über Lilit aufzuhören,
daß alle weiterhin eine äußerst niedrige Meinung von
mir hatten.
    Als sämtliche Nerven an Bord der Amarant bloßgescheuert waren, ging Flick ins Deckhaus und kam mit
seiner Elektrolyra im Arm zurück. Eine gute Idee –
vorausgesetzt, er konnte sie spielen. Ein falscher Ton, und seine
überreizten Schiffskameraden würden ihn zweifellos in den
Lethe schmeißen.
    Die Melodie war von ihm selbst – sparsam, langsam und
anrührend. Als Text hatte er fünf Strophen aus ›Der
Antschar‹ von einem terranischen Dichter verwendet, den Flick
Puschkin nannte. Ich fand den Namen toll. Wenn ich je eine andere
Katze oder einen neuen Roboter oder ein zweites Kind bekam,
würde ich ihr oder ihm den Namen Puschkin geben.
     
In einer Wüste öd und bar,
    Im Boden, dürr vom Sonnenbrande,
    Steht wie auf Schildwach ein Antschar,
    Grausam, allein im heißen Sande.
     
    Ihn schuf der Steppe durst’ger Staub
    In einer zornerfüllten Stunde
    Und tränkt mit Gift das welke Laub
    Und auch die Wurzeln tief im Grunde.
     
    Das Gift aus seiner Borke rinnt,
    Geschmolzen von

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