Der Kraehenturm
lesbar.
… vorsichtig. Er ist sehr gefährlich.
Ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst. Du warst mir all die Jahre ein treuer Freund.
In ewiger Freundschaft und Hochachtung
Vallentin Zirker
Icherios’ Hände zitterten, als er den Brief zum Trocknen auf einen Stuhl legte. In wessen Auftrag hatte Vallentin gearbeitet? Der Kanzlei oder des Magistratum? Und warum hatte er sich an Icherios gewandt und nicht an seine Vorgesetzten und Mitarbeiter?
Trotz der unzähligen Fragen war es schön und erschreckend zugleich, Vallentin regelrecht aus dem Grab sprechen zu hören. Und doch stach es ihn mitten ins Herz, dass sein Freund mit dem Ordo Occulto in Kontakt gestanden, es aber vor ihm verheimlicht hatte. Ebenso Freyberg. Warum hatte er ihm nie anvertraut, dass Vallentin für den Ordo Occulto gearbeitet hatte? Es konnte kein Zufall sein, dass er nun ebenfalls angeworben worden war. Freyberg musste von ihrer Freundschaft gewusst haben. Und von was für einer Gefahr sprach Vallentin? Hatte Icherios mit seinen Befürchtungen recht, dass Freyberg nicht der freundliche Mann war, für den er sich ausgab? Der junge Gelehrte wanderte unruhig im Zimmer auf und ab. Das Feuer im Kamin war erloschen, die Feuchtigkeit drang ungehindert in die Kellerwohnung ein. Maleficium kuschelte sich tiefer ins Bett. Seit seiner Verwandlung hatte er eine Vorliebe für warme und weiche Plätze entwickelt.
Schließlich zwang sich Icherios, an dem Buch weiterzuarbeiten. Er musste so viele Seiten wie möglich retten, wenn er Vallentins Geheimnis ergründen wollte, und ihm blieb nicht mehr viel Zeit, da er schon in der kommenden Nacht nach Heidelberg aufbrechen musste. Vielleicht befanden sich in dem Buch, das eine Art Tagebuch zu sein schien, weitere Hinweise. Als er bei der letzten beschriebenen Seite angekommen war, vergewisserte er sich, dass in den übrigen Blättern nicht doch noch einzelne Bilder oder Worte zu finden waren. Danach blickte er sich im Raum um. Beim Anblick des Kamins kam ihm eine Idee. Er holte einen Bindfaden aus einer Schublade und spannte ihn zwischen einem Kleiderständer und einer Halterung zur Befestigung von Glaskolben und anderen Vorrichtungen auf. Die Konstruktion stellte er dicht an den Kamin, schürte das Feuer noch einmal und hängte dann mithilfe von hölzernen Wäscheklammern die Buchseiten auf. Nachdem er sein Werk vollendet hatte, beobachtete er zufrieden, wie Dampf von den Seiten aufstieg und sich das Papier wellte, als es trocknete.
Einige Stunden später, Icherios hatte inzwischen gepackt, waren die Blätter getrocknet, sodass er sie abhängen konnte. Das Papier war leicht gewellt und an vielen Stellen stark ausgefranst, verschimmelt und verdreckt. Obwohl seine Neugierde groß war, nummerierte er das Tagebuch sorgfältig, bevor er anfing, es zu studieren. Ohne Bindung war die Gefahr zu groß, dass es durcheinandergeriet. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weshalb ihn bei der monotonen Tätigkeit Müdigkeit und Schwäche überfielen. Sein Körper verlangte nach Ruhe, um die Eindrücke der letzten Stunden zu verarbeiten.
Leicht gebeugt ging Icherios nach draußen und hielt sein Gesicht dem Schneeregen, der inzwischen auf die Erde prasselte, entgegen. Hinter dem Wolkenschleier wirkte die Sonne wie das getrübte Auge einer Leiche. Die Kälte erweckte seine Lebensgeister wieder, während er die eisige Luft tief einatmete. Er lehnte sich an die Wand und genoss das Stechen der eisigen Schneetropfen auf seiner Haut.
Noch immer fragte er sich, ob er womöglich doch Schuld an Vallentins Tod trug. Er konnte sich nicht mehr an die Nacht erinnern. Vielleicht hatte er ja erfahren, dass sein Freund ihn über Jahre belogen und betrogen hatte und ihm dann aus Wut etwas angetan? Icherios raufte sich die Haare. War er eventuell nicht nur mit dem Bösen infiziert worden, sondern trug den Keim der Verderbnis schon immer in sich?
Die Zähne des jungen Gelehrten fingen an zu klappern. Die Kälte fraß sich in seine Knochen. Die Arme eng um den Körper geschlungen ging er wieder hinein und begann das Tagebuch zu studieren. Vallentin hatte es geliebt zu zeichnen, daher waren auch hauptsächlich Abbildungen von Gebäuden, Menschen und Tieren darin zu finden. Anfangs waren es vertraute Bilder. Vallentins und Icherios’ Familie, Meister Irgrim, die Rothaarige, für die Vallentin geschwärmt hatte, das Karlsruher Schloss, das Rathaus, das Durlacher Tor und vieles mehr. Darunter befanden sich belanglose Kommentare, Namen
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