Der Kraehenturm
dem Gestank eine Lebendigkeit an, die ihm neuen Mut einflößte. Er legte seinen Kopf in den Nacken, wobei er seinen Kastorhut, unter dem Maleficium saß, mit einer Hand festhielt, und blickte zum Himmel hinauf, der sich inzwischen zugezogen hatte und sich als graue Decke dem Boden entgegenwölbte. Doch anstatt sich davon erdrückt zu fühlen, spendete ihm die Eintönigkeit Trost. Ziellos wanderte er durch die Straßen, vorbei an den einstöckigen Mansarddachhäusern der bürgerlichen Bevölkerung, dem Rathaus und über den Marktplatz, bis er sich in einer schmalen Gasse am Rande der Stadt wiederfand, in der die niedrigen Häuser alt und verwittert aussahen, obwohl sie wie ganz Karlsruhe erst wenige Jahrzehnte alt waren. Hier lebten arme Menschen, die sich die Instandhaltung ihrer Häuser nicht leisten konnten. Hier hatte auch Vallentin gelebt.
Beim Anblick des Gebäudes, in dessen erstem Stock die ehemalige Wohnung seines besten Freundes lag, konnte Icherios seine Erinnerungen an die schönen Zeiten nicht mehr zurückhalten, was sein Gefühl von Einsamkeit noch verstärkte. So viele Stunden hatten sie zusammengesessen, geredet, philosophiert und gescherzt. Sie waren seit ihrer Kindheit Freunde gewesen. Mit Vallentins Tod war auch ein Teil von Icherios gestorben. Vallentin war der einzige Mensch gewesen, dem er vertraut hatte. Jetzt sehnte sich Icherios nach jemandem, dem er seine Gedanken anvertrauen konnte, ohne fürchten zu müssen, dass er benutzt oder betrogen würde.
Eine Schneeflocke fiel auf seine Nasenspitze, dann setzte ein leichter Schneeregen ein, der seine Wangen vor Kälte erfrieren ließ. Er ging um das Gebäude herum, bog in die schmale Straße ein, die an dem Haus entlangführte. Müll stapelte sich an den Wänden, und Ratten huschten quiekend davon. Der anhaltende Regen hatte Teile des Abfalls herausgespült, sodass eine dicke Schicht schlammigen Drecks das Pflaster bedeckte. Im Haus brannte kein Licht. Keine Bewegung wies auf die Anwesenheit eines Menschen hin. Ein Rankgitter ragte die Hauswand hinauf. Es sollte wildem Wein Halt bieten, doch in der dunklen, dreckigen Gasse hatten die Pflanzen keine Chance zu überleben. Sehnsüchtig blickte Icherios zu dem Fenster empor, hinter dem ihn früher warmer Lichtschein und heißer gewürzter Wein erwartet hätten. Wie es dort inzwischen aussehen mochte? Ob noch etwas von Vallentins Geist in den Zimmern schwebte, ihn spürbar machte? Fand sich dort vielleicht sogar ein Hinweis auf das Geschehen in Vallentins Todesnacht? Seit jener Nacht hatte Icherios die Räume nicht mehr betreten. Seine Neugier und sein Bedürfnis, seinem Freund nahe zu sein, gewannen überhand. Er versicherte sich, dass niemand in der Nähe war, dann setzte er seinen Hut ab und verbarg ihn an einer einigermaßen sauberen Stelle. Maleficium steckte er in eine Tasche im Innenfutter seines Mantels, die er extra für den Nager hatte anfertigen lassen. Vorsichtig ergriff er das morsche Holz des Gitters und begann an ihm hinaufzuklettern, wie er es vor Jahren regelmäßig getan hatte. Die Vermieter hatten nächtliche Besucher nicht gutgeheißen, sodass Icherios nur der heimliche Einstieg geblieben war.
Sein Herz raste. Die Angst erwischt zu werden trieb Schweißperlen auf seine Haut. Doch sein Wunsch, die Nähe seines Freundes zu spüren und eventuell eine Spur zu entdecken, war zu groß. Sobald er im ersten Stock angekommen war, schob er das Fenster auf. Es ließ sich noch immer nicht verriegeln, wie er zugleich erfreut und verärgert feststellte. Dann spähte er in den düsteren Raum. Nur wenig Licht drang zwischen den Hausfronten in die Wohnung. Niemand schien da zu sein.
Icherios krabbelte durch das Fenster in das dahinter liegende Zimmer. Seine Knie zitterten. Leise knarrte das Holz unter seinen Füßen. Gebannt hielt er den Atem an und lauschte, ob er Schritte hören würde. Aber einzig das vertraute Heulen des Windes an den Dachkanten, das selbst die leichteste Brise wie einen Sturm erschienen ließ, und das Krabbeln kleiner Tierchen im Mauerwerk durchbrachen die Stille. Icherios’ Magen verkrampfte sich, als er die Veränderungen in dem Raum wahrnahm. Wo sich einst Bücher gestapelt hatten, lag nun dreckige Wäsche. Die Möbel waren zwar unverändert, doch eine dicke Schicht Staub bedeckte sie. Ein ungeleerter Nachttopf stand in der Ecke neben der Tür zum Schlafraum, und schimmeliges Geschirr stapelte sich auf dem wackligen Esstisch.
Darauf bedacht, kein Geräusch zu
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