Der Kraehenturm
und kleine Anekdoten. Doch dann waren da noch Porträts unbekannter Personen, Straßenzüge und Anwesen. Erst das Bild eines großen Schlosses, das an einem bewaldeten Hang stand, vor dem ein rauschender Fluss entlangströmte, bestätigte Icherios’ Vermutung: Es handelte sich um Heidelberg. Die Stadt, in der Vallentin angeblich für einen Händler Wein gekauft und den Anbau überwacht hatte. Aber anscheinend hatten ihn auch andere Geschäfte in die ehemalige Residenzstadt geführt. In diesem Teil des Tagebuches waren die Schäden am größten, sodass Icherios kaum etwas entziffern konnte. Er fand nur Bruchstücke von Namen, Bezeichnungen von Häusern und kurze Anmerkungen zur Geschichte Heidelbergs. Frustriert blätterte Icherios noch einmal durch das Buch. Es würde viel Arbeit erfordern und lange dauern, um die Schrift wieder lesbar zu machen.
Dann fiel ihm etwas auf. Neben den meisten Bildern befanden sich auf der rechten Seite Kommentare. Manchmal nur wenige Worte, die keinen Sinn ergaben, oder kleine Reime. Er betrachtete die Tinte genauer. Vermutlich hatte Vallentin die Anmerkungen am selben Tag geschrieben, an dem er die Bilder gezeichnet hatte. Es handelte sich um dieselbe Tintenmischung, und die Handschrift verlief in einem ungewohnt zittrigen Schwung. Aber was hatte Vallentin damit gemeint? Icherios schüttelte den Kopf. Er war zu müde, um darüber nachzudenken. Stöhnend erhob er sich, löschte das Licht und zog seine Kleidung aus, die er danach achtlos über einen Stuhl warf. In der kalten Morgenluft breitete sich Gänsehaut auf seinen langen, schmalen Gliedern aus. Die Rippen zeichneten sich deutlich an seiner Seite ab, als er sich vorbeugte, den schlafenden Maleficium hochhob und unter die Decke kroch. Während er versuchte einzuschlafen, um wenigstens ein wenig Erholung zu finden, ging eine Frage immer wieder in seinem Kopf herum: War es Zufall, dass er in dieselbe Stadt geschickt wurde, in der Vallentin sich kurz vor seinem Tod aufhielt?
4
Die Geisterkutsche
G
20. Octobris, bei Karlsruhe
I cherios stand an der Kreuzung, die ihm Freyberg beschrieben hatte, nicht weit vom Durlacher Tor entfernt. Die schmale Sichel des zunehmenden Mondes spendete nur wenig Licht, wann immer sie sich durch die schwarzen Wolkenberge kämpfte. Im Osten verdunkelte sich der Himmel, und erste Blitze erhellten die Nacht. Der eisige Wind peitschte über das Land und brachte Bäume und Gräser zum Wogen.
Der junge Gelehrte versuchte gerade, sein Zittern in den Griff zu kriegen, als er ein Stöhnen vernahm. Es schien von dem von Büschen umrahmten Wegekreuz zu kommen, an dem ein magerer Jesus mit verzerrtem Gesicht zu sehen war. Während er auf das Kreuz zuging, musste er sich immer wieder denselben Satz vorsagen: Die höchste Tugend ist die Freiheit von Emotionen . Das machte es allerdings auch nicht leichter, die warnende Stimme in seinem Inneren zu ignorieren. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich eine Muskete oder einen Degen herbei, obwohl er sich sonst strikt weigerte, eine Waffe zu tragen. Nervös näherte er sich dem Kreuz. Er hielt den Atem an, als das Stöhnen erneut erklang. Vorsichtig schob er die Äste beiseite. Vor ihm befand sich der hölzerne Pfosten, an dem das Abbild Jesu befestigt war. Nichts, das auf die Ursache der Laute hindeutete. Er blickte in die aufgerissenen Augen des Gekreuzigten. Es musste der Wind sein, redete er sich ein.
Dann wehte er ein anderes Geräusch immer näher heran, es klang wie ein lautes Flattern, und plötzlich drang ein schriller Schrei durch die Nacht.
Icherios warf sich auf den Boden. Schlamm sickerte in seine Kleidung. Ein Schatten huschte über den Himmel, dann landete ein Totenvogel, ein Uhu, auf dem Kreuz und starrte ihn aus kalten, schwarzen Augen an. Der junge Gelehrte richtete sich vorsichtig auf und entfernte sich langsam rückwärtsgehend von dem unheimlichen Vogel. Bei seinem Gepäck angekommen, versicherte er sich, dass Maleficium unversehrt in seiner Tasche saß. Der Uhu verfolgte jede seiner Bewegungen, als wenn er wüsste, dass Icherios eine Leckerei vor ihm verbarg. Das Tier im Auge behaltend griff der junge Gelehrte in seine Jackentasche und holte das kleine Glas mit dem Pfauenblutpulver heraus. Er hatte es noch kurz vor seiner Abreise nach Freybergs Anweisungen zubereitet. Auch wenn es ihn viel Geld gekostet hatte, die Pfauenfedern zu erstehen. Er nahm es und streute es um sich und seine Koffer herum auf den Boden. Dann besserte er die Bereiche aus, in
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