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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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sich auf die Unterlippe. Er wollte nicht mit der Kreatur reden. Das Schweigen breitete sich aus. Der Griff um sein Handgelenk wurde fester. Das Schattenwesen richtete sich auf, verströmte tiefste Schwärze und Gefahr wie ein Tiegel voller Schwefel seinen Gestank.
    »Ich arbeite …«, setzte Icherios stotternd an, überlegte es sich dann aber anders. Dieser Kreatur wollte er nichts über die Kanzlei verraten. »Ich studiere Medizin.«
    »Ah, Heidelberg ist Euer Ziel.« Die schnarrende Stimme zog die Silben so zusammen, dass die Worte miteinander verschwammen. Der Griff lockerte sich. »Was für ein angenehmer Zufall, ist dies doch ebenfalls mein Bestimmungsort. Ihr habt sicher nichts dagegen, Euch ein wenig zu unterhalten, damit die Zeit schneller vergeht?«
    Icherios wusste, dass ihm keine Wahl blieb. »Natürlich. Sehr gerne«, presste er hervor.
    Die knochige Hand löste sich von seinem Handgelenk. Das Schattenwesen zog sich auf seine Seite zurück. »Wie lautet Euer Name? Trotz der späten Stunde sollten wir die Gebote der Höflichkeit beachten.«
    »Icherios Ceihn aus Karlsruhe.«
    Das Schattenwesen neigte den Kopf. »Man nennt mich Doctore. Lasst uns sehen, wie weit Eure Studien gediehen sind. Welches ist das längste Blutgefäß, das durch den menschlichen Körper läuft?«
    Icherios antwortete ohne Zögern. »Die Vena cava infe­rior.« Das war vertrautes Gebiet.
    »Sehr gut. Und aus wie vielen Knochen besteht der menschliche Körper?«
    »206.«
    »Wie ich sehe, habt Ihr tüchtig gelernt. Nun eine etwas schwierigere Frage. Ihr verfügt nur über den Oberkörper einer Leiche. Wie findet Ihr heraus, wie groß dieser Mensch einst war?«
    Icherios zögerte. »Ich stelle seine Maße ins Verhältnis zu meinen?« Er hatte keine Ahnung. Seine Hände zitterten. Hastig presste er sie auf seine Oberschenkel.
    Das Schattenwesen beugte sich zu ihm vor, ein fauliger Geruch schlug ihm aus der Kapuze entgegen. »Nein. Die ausgestreckten Arme von Fingerspitze zur Fingerspitze geben die Körpergröße des Menschen an.«
    Das Wissen seines Gegenübers rief, trotz dessen schauer­lichem Äußeren, Bewunderung in dem jungen Gelehrten hervor. Er nahm für die nächsten Worte all seinen Mut zusammen. »Darf ich mir das notieren?«
    Ein knurriges Lachen erklang. »Nur zu. Die Lehre ist eines der höchsten Güter der Menschheit.«
    Von da an prasselten auf Icherios Fragen ein, auf die er zwar teilweise antworten konnte, aber zumeist hörte er den Ausführungen des Doctore zu. Sein Gegenüber beeindruckte ihn, und in seinem wissenschaftlichen Eifer verlor er nach und nach seine Angst.
    Plötzlich stoppte die Kutsche. Icherios wurde nach vorne geschleudert. Ächzend rappelte er sich auf und schob den Vorhang zur Seite. In einem Kreis aus ­Pfauenblutpulver wartete ein grauhaariger Mann, dessen runder Bierbauch im grotesken Gegensatz zu seinen dürren Armen und Beinen stand. Er hielt einen alten Lederkoffer in der Hand. Der junge Gelehrte senkte den Kopf. Er wollte nicht in Gefahr geraten, dem Kutscher in die Augen zu blicken. Unvermittelt tauchte der Doctore neben ihm auf. Icherios erschrak. Weder hatte er ein Geräusch gehört, noch hatte die Kutsche gewackelt.
    »Oh mein Gott! Das Gesicht!«, brüllte das Schattenwesen.
    Icherios fuhr zusammen, hielt aber tapfer den Blick gesenkt. Dann hörte er einen entsetzten Schrei von draußen. Er spähte auf die Füße des wartenden Mannes, dann weiter hoch. Vor seinen Augen lösten sich dünne Fleischfetzen samt Kleidung von ihnen und schwebten wie Staubflocken auf die Pferde zu, um sogleich von den Kreaturen absorbiert zu werden. Die Schreie nahmen an Entsetzen zu. Die Beine knickten ein. Der junge Gelehrte blickte nun starr vor Angst in das sich auflösende Gesicht des Unglückseligen. Die Schreie gingen in ein Wimmern über, das verstummte, als sich der Kopf auflöste und zu einem Teil der Geisterkutsche wurde.
    Der Doctore kicherte. »Was für ein Narr.«
    Icherios war zu erschüttert, um zu antworten. Als die Pferde anzogen und das Fragespiel erneut begann, wollte er den Schatten anschreien, um eine Antwort darauf zu bekommen, warum er den armen Mann dazu verleitet hatte, aufzuschauen. Aber er wusste es bereits: Weil er es konnte und die Schwachen es nicht verdienten zu leben. Eine Einstellung, der er schon häufig in der Wissenschaft begegnet war. So spielte Icherios aus Angst um sein eigenes Wohlergehen das Spiel weiter mit und versuchte das Geschehene zu vergessen.
    Der Doctore zog

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