Der Kraehenturm
verursachen, schlich er in die Kammer, die Vallentin als Schlafzimmer genutzt hatte. Auch hier standen noch dieselben Möbel: das alte, knarrende Bett und der Kleiderschrank mit den schräg in den Angeln hängenden Türen. Nur der Geruch hatte sich verändert. Der Gestank von Sex und Fäkalien schlug ihm mit widerwärtiger Eindringlichkeit entgegen.
Vallentin hatte eine Vorliebe für historische Karten gehabt, aber auch die Erstellung neuer Karten begeisterte ihn. Nun prangte anstelle eines Panoramas aus dem 17. Jahrhundert, das die Straßen Roms darstellte, ein schwarzer Schimmelfleck an der Wand über dem Bett. Icherios fühlte tiefe Trauer. Zwar riefen die Möbel Erinnerungen hervor – der zerbeulte Türrahmen zum Beispiel. Icherios konnte sich genau erinnern, wie Vallentin während eines spielerischen Schlagabtauschs aus Versehen seinen Stock mit solcher Wucht dagegengeschlagen hatte, dass noch heute eine Delle darin zu erkennen war. Aber von der einstigen Geborgenheit war nichts mehr zu spüren. Die Veränderungen, die in der Wohnung vorgegangen waren, brachen Icherios das Herz. Sie führten ihm drastisch vor Augen, dass sein Freund für immer verloren war. Mit hängendem Kopf wendete er sich dem Fenster zu, als sein Blick auf eine hervorstehende Diele fiel. Früher hatte ein handgewebter Teppich sie verborgen. Icherios trat näher. An einer Seite des Holzes hatte jemand ein kleines Symbol eingebrannt. Es war die Monas Hieroglyphica, dieselbe Rune, die auf dem Ring prangte, der ihn als Mitglied des Ordo Occulto auszeichnete. Das konnte kein Zufall sein. Icherios schob ein dreckiges Unterhemd zur Seite, dann kniete er sich auf den Boden. Beherzt griff er nach der Diele und versuchte sie zu lösen. Doch sosehr er sich auch bemühte, sie bewegte sich keinen Fingerbreit. Er fluchte leise. So würde er es nicht schaffen, er brauchte etwas, um das Holz anheben zu können.
In diesem Augenblick vernahm er Stimmen auf der Straße. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter. Hoffentlich waren es nicht die Bewohner des Hauses. Auch Maleficium hatte seine Sorge bemerkt und war sogar aus seinem tiefen Schlaf aufgewacht. Icherios spürte sein unruhiges Trippeln in seiner Jackentasche. Da! Ein Messer steckte zwischen einem Stapel angeschlagener Keramikteller. Ungeschickt zog der junge Gelehrte es heraus und brachte dabei das Geschirr zum Klirren. Furchtsam hielt er den Atem an, doch bisher schien ihn niemand gehört zu haben. Die Stimmen kamen allerdings immer näher. Rasch wandte er sich der Diele zu. Dieses Mal hatte er mehr Glück. Nach einigen Versuchen gelang es ihm schließlich, das Holz zu lösen, als er unten die Tür quietschen hörte. Voller Schrecken griff Icherios in das Loch, bekam etwas zu fassen und zog es heraus. Es war ein schmales Buch, in dem ein Brief steckte und ein kleiner, schwarzer Samtbeutel. Beide waren sie feucht und schimmelig. Icherios drückte die Diele an ihren Platz zurück und versuchte sie so lautlos wie möglich festzuklopfen. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust. Dann legte er das Messer beiseite. Keinen Moment zu früh! Schritte erklangen auf der Treppe. Eilig kletterte er hinaus, schloss das Fenster, wobei der Rahmen so laut zufiel, dass es ihn wunderte, dass niemand auf die Straße rannte, um zu überprüfen, wo der ohrenbetäubende Lärm herkam. Schließlich hangelte er sich das Gitter hinunter. Kurz über dem Boden rutschten seine Füße ab, und er landete mit einem lauten Klatschen auf dem Pflaster. Seine Kleidung saugte sofort das dreckige Wasser auf und kühlte seine Haut innerhalb von Sekunden ab. Maleficium krabbelte lauthals protestierend aus der Tasche und setzte sich vor Icherios hin. Seine Augen funkelten vorwurfsvoll. Sobald der junge Gelehrte wieder Luft bekam, rappelte er sich auf, holte seinen Hut aus dem Versteck, schnappte sich Maleficium und stürmte davon.
Während er rannte, setzte er Ratte und Hut auf. Seine Lungen brannten, doch er wagte nicht, innezuhalten, bis er eine belebtere Straße erreicht hatte, wo er zwischen den Menschen untertauchen konnte. Das Büchlein und den Beutel presste er dicht an den Körper, um sie vor der Witterung zu schützen. Immer wieder drehte er sich um, voller Angst, hinter sich die Stadtwache zu erspähen. Aber er hatte Glück. Niemand verfolgte ihn. Zumindest hoffte er das.
Trotz der späten Stunde beäugte Meister Irgrim, Icherios’ Vermieter, ihn misstrauisch vom oberen Stock aus, als er triefend nass die Haustür aufsperrte.
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