Der Kraehenturm
Doch der junge Gelehrte war nicht bereit, sich auf ein Gespräch mit dem alten Geizkragen einzulassen. Das frustrierte Gebrüll des fetten Schreiners begleitete ihn, als er in den Keller zu seinem Zimmer hinabstieg. »Ceihn, verdammter Bursche. Machen Sie den Hausflur sauber!«
Icherios beachtete ihn nicht weiter, schloss die Tür hinter sich und legte den Riegel vor. Eines der wenigen Dinge, die er sich nach seiner Rückkehr aus Dornfelde gegönnt hatte, um sicher zu sein, dass sein Vermieter nicht jederzeit bei ihm hereinplatzen konnte. Aufatmend legte er das Büchlein und den Beutel auf eine Truhe, in der verschiedene gläserne Kolben und Röhren lagerten. Anschließend holte er Maleficium aus dem Hut und streichelte den verwirrten Nager, bevor er ihn auf dem Boden absetzte. Das Tier krabbelte sofort zum Bett, kletterte hinauf und verschwand unter der Decke.
Zum ersten Mal an diesem Tag stahl sich ein Lächeln auf Icherios’ Lippen. Er ging zu der Truhe und begutachtete seinen Fund. Es würde nicht einfach werden, die feuchten Blätter voneinander zu trennen, ohne die Schrift vollkommen zu verwischen. Deshalb zog er zuerst seine nasse Kleidung aus, hängte seinen Hut an einen Haken neben dem Kamin und entzündete ein Feuer. In einer Kiste, die ihm als Kleiderschrank diente, suchte er nach einer sauberen Hose und einem Hemd. Er musste dringend waschen, stellte er seufzend fest.
Nachdem er sich umgezogen hatte, holte er aus einem Behälter einen Streifen getrocknetes Fleisch und lockte damit Maleficium unter der Decke hervor. Der Nager knabberte genüsslich an dem Leckerbissen, während er Icherios beobachtete, wie er seinen unordentlichen Schreibtisch freiräumte. Dann legte Icherios das Büchlein auf den Tisch, setzte sich davor und hielt einen Moment den Samtbeutel in der Hand. Schließlich kippte er dessen Inhalt auf seine Handfläche. Ein Ring fiel zuerst heraus, der seinem eigenen, der ihn als Mitglied des Ordo Occulto auswies, bis ins kleinste Detail glich. Der junge Gelehrte starrte mehrere Minuten schweigend auf ihn herab. Dann nahm er eine Lupe, drehte den Ring um und betrachtete die Fassung. An einer Seite fand er die Buchstaben »V« und »Z«, Vallentins Initialen. Das durfte nicht sein! Hatte er seinen Freund so wenig gekannt? War Vallentin ein Agent des Ordo Occulto gewesen und seine Anstellung bei einem Weinhändler eine einzige Lüge? Icherios’ erster Impuls war, zu Freyberg zu rennen und ihn zur Rede zu stellen. Aber er bezweifelte, dass er ihn einlassen würde. Wütend schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und stieß einen Schrei aus. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte er sich dem Buch zu und wählte sein schärfstes Skalpell. Zuerst trennte er das Papier von dem vermoderten Einband. Im Anschluss daran begann er, Seite für Seite herauszuschneiden. Wann immer sie miteinander verklebt waren, tauchte er ein Tuch in Wasser und feuchtete das Papier an, sodass er die Blätter voneinander lösen konnte. Anschließend legte er sie glatt ausgestrichen auf seinen Schreibtisch. Es war eine mühsame und eintönige Arbeit. Aber der junge Gelehrte war dankbar für die Ablenkung. Zu sehr quälten ihn Rabans Andeutungen und die Tatsache, dass sein bester Freund offensichtlich Geheimnisse vor ihm gehabt hatte.
Der Morgen graute bereits, als er endlich die Mitte des Büchleins, in der der Umschlag steckte, erreicht hatte. Vorsichtig löste er ihn von den Buchseiten und legte ihn vor sich auf den Tisch. Dann fuhr er fort, die restlichen Seiten zu lösen. Doch sein Blick fiel immer wieder auf den Brief.
Die von einem dünnen Wolkenschleier verdeckte Sonne berührte in ihrer blassen Schönheit gerade die Dachgiebel, als er seufzend aufgab und ihn behutsam mit dem Skalpell öffnete. Das Buch und der Umschlag hatten das Papier ausreichend geschützt, sodass er nicht vollkommen verrottet war. Trotzdem war die Tinte zu großen Teilen verwischt oder von Dreck und Schimmel verdeckt. Icherios erkannte Vallentins vertraute, verschnörkelte Schrift und begann damit, den Anfang zu entziffern.
Mein lieber Freund Icherios,
wenn du dieses Buch findest, bin ich vermutlich tot, und meine Untersuchungen stießen auf ein wahres Verbrechen, dessen …
Dann folgte ein Abschnitt, der nicht mehr zu lesen war. Er konnte zwischendurch nur die Anschrift des Weinbauern erkennen, bei dem Vallentin angeblich Wein für einen Händler gekauft hatte. Die letzten Zeilen waren wieder
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