Der Kranich (German Edition)
Bademantels gleiten und legte eine Rose aus altrosafarbenem Pergament neben die Tasse. „So was zum Beispiel.“
Ehrfürchtig nahm ihre Mutter das kleine Kunstwerk in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. „Wie wunderschön! Ich hatte allerdings mehr gemeint …“
„Am liebsten faltet er Kraniche. Jetzt muss ich aber los, sonst komm ich noch zu spät. Bis dann.“
„Hey, fahr vorsichtig, es kann glatt werden!“
Fünfzehn Minuten später drehte Eva den Schlüssel im Zündschloss ihres geliebten cremefarbenen Käfers, doch ein müdes Röcheln des Motors, das sofort wieder erstarb, war die ernüchternde Reaktion. Sie versuchte es, einen unfeinen Fluch murmelnd, erneut – mit demselben Ergebnis.
Goodbye Vertragsrecht, goodbye Zwischenprüfung! Wütend schlug sie aufs Lenkrad. In fast drei Semestern hatte ihr Auto sie noch nie im Stich gelassen, dies war nicht der geeignete Zeitpunkt, um damit zu beginnen! Sie zerrte das Handy aus ihrer Tasche und wählte, da ihr auf die Schnelle beim besten Willen nichts Besseres einfiel, Lukes Nummer.
Eine halbe Stunde später schlug Ralf die Motorhaube zu. Zarte weiße Flöckchen tanzten in der Luft. „Tja, bei älteren Wagen kann das in der Kälte schon mal passieren. Deine Batterie ist nicht mehr die allerstärkste, du solltest sie bei Gelegenheit mal auswechseln. Versuchs jetzt mal.“
Anstandslos sprang der Motor an.
„Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Ralf!“
„Ich schick dir die Rechnung – war ’n Scherz.“ Einen Moment zögerte er, dann fuhr er fort: „Hör mal … siehst du Luke heute noch?“
„Ich denke schon. Warum?“
Falten zeigten sich auf seiner Stirn. „Das ist gut.“
„Stimmt irgendwas nicht?“
„Nein, nicht direkt. Ich hab ihn nur seit zwei Tagen nicht erreicht, und er …“
Fragend blickte Eva Ralf an.
„Na ja, er war … wie soll ich sagen …, ich finde es nicht gut, dass er so viel allein ist.“
„Ich weiß, was du meinst.“
„Na gut, grüß ihn von mir. Vielleicht seh’n wir uns ja am Wochenende.“
Eva schlug die Tür zu und sah seufzend auf ihre Armbanduhr. Köberle würde sie zu Hackfleisch verarbeiten.
Als Thomas Lamprecht am späten Vormittag aus dem Haus trat, hatte sich der Druck in seinem Kopf bereits dergestalt ausgeweitet, dass er glaubte, er würde zerplatzen. Nach den ersten beiden Tagen freiheitstrunkener Euphorie schlugen nun, am Montagmorgen, die alltäglichen Realitäten mit umso unbarmherzigerer Vehemenz zu. Er war auf Bewährung. Er musste und wollte sein Leben neu ordnen, er musste die leidige Geschichte mit Barranquilla aus der Welt schaffen, und er musste diesen unerträglichen Druck aus seinem Kopf bekommen, damit er wieder klar denken konnte. Forderungen, von denen zumindest die erste und die letzte in unmittelbarem Widerspruch standen. In unüberbrückbarem Widerspruch. Es fing schon wieder an. Kaum hatte er einen Fuß auf freie Erde gesetzt, holte ihn seine Vergangenheit ein und stellte ihn vor ein unlösbares Dilemma. Eigentlich war es so gewesen, seit er denken konnte. Es hatte immer nur links oder rechts gegeben, und aus einem zynischen Grund, den er nicht kannte, war jedes Mal weder links noch rechts für ihn möglich gewesen. Wenn er versucht hatte, geradeaus zu gehen, war er zielstrebig gegen die Wand gerannt. Er hatte sich dabei so oft eine blutige Nase geholt, dass er irgendwann aufgehört hatte zu zählen. Und irgendwann, viel später, hatte er herausgefunden, dass es einen weit besseren Weg gab, sich eine blutige Nase zu holen …
Ohne dass er sie bewusst zur Kenntnis nahm, zogen die Gedanken an ihm vorüber, während er in die U-Bahn stieg und die paar Stationen zum Charlottenplatz fuhr. Er sah auf die Uhr. Zwanzig vor elf. Er würde pünktlich sein.
Das Gebäude, in dem die seit wenigen Jahren privatisierte Stuttgarter Bewährungshilfe untergebracht war, befand sich in der Uhlandstraße, einen Steinwurf vom Charlottenplatz entfernt. Dreiundneunzig Prozent der Richter hatten sich wegen grundsätzlicher Bedenken gegen eine Privatisierung in diesem sensiblen Bereich des öffentlichen Lebens ausgesprochen, vor allem, weil sowieso niemand recht wusste, was sie eigentlich bewirken sollte – ausgenommen eine lächerliche Haushaltseinsparung. Daran dachte Thomas Lamprecht nicht, als er die zugige Passage durchquerte. Er dachte an David Reich, der ihn in den letzten Wochen in Stammheim einmal besucht hatte. Ein Sozialpädagoge, langhaarig, Typ ewiger Student, dabei kaum
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