Der Kranich (German Edition)
man konnte viel Spaß mit ihr haben. Irgendwann musste Ralf jedoch enttäuscht feststellen, dass sie entschlossen war, den Rest der Nacht allein zu verbringen. Also machte er sich nach seinem dritten Wodka-Lemon – mehr würden es auch nicht werden, er musste ja noch fahren – auf die Suche nach Lukas.
Er fand ihn in der Lounge, wo die Karaoke-Show seit Langem beendet war, allein auf einem Hocker sitzend, den Kopf gegen die Wand gelehnt, den Blick wie abwesend zur Raumdecke gerichtet. Ralf sah nach oben, wo sich mehrere große Glitzerkugeln im bunten Lichtbeschuss drehten, während milchiger Rauch vom Boden aufstieg. Obwohl sich das Ende der Nacht unaufhaltsam näherte, waren alle Ebenen noch gut besucht. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Menschen hindurch, nahm seinen Freund beim Arm und zog ihn nach draußen.
Die Kälte und Stille der eisigen Winternacht schienen Lukas allmählich aus seiner Trance zu reißen.
„Hey, Skywalker, willkommen auf der Erde! Du weißt ganz genau, dass du die Dinger nicht anstarren sollst.“
„Ich hab Zahlen gesehen … Vielleicht gibt es eine Möglichkeit über einen Sekundärprozess …“
„Und trinken solltest du auch nicht.“
„Wieso nicht? Du fährst doch.“
„Ja, aber du verträgst es nicht. Komm mit, ich bring dich nach Hause. Warum war Eva eigentlich heute nicht dabei?“
„Sie hat Prüfungen. Ich sehe sie nicht viel zurzeit.“
Sie stiegen in den Wagen und schlugen die Türen zu. Als Ralf wie üblich Richtung Kräherwald starten wollte, sagte Lukas plötzlich: „Fahr über den Bahnhof.“
Ralf zog die Brauen hoch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Luke …“, den Ausdruck im Gesicht seines Freundes kannte er jedoch zu gut, um weiterzusprechen. Es war schon immer aussichtslos gewesen, Lukas etwas ausreden zu wollen, wenn er es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Also wendete Ralf schweigend, fuhr weiter bis zum Pragsattel und bog dann in die Heilbronner Straße ein.
Es kam nicht oft vor, dass Lukas trank, doch wenn er es tat, tat er es wie alles in seinem Leben: exzessiv. Auf dem kurzen Weg vom Hauptbahnhof in den Westen schaffte er knapp eine halbe Flasche Johnny Walker Black Label, und jemand, der ihn nicht gut gekannt hätte, hätte nichts davon bemerkt.
Das Problem war nur, dass Ralf Lukas wahrscheinlich besser kannte als jeder andere. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Blick seines Freundes sich allmählich veränderte und fragte sich zum x-ten Mal, was der Grund dafür sein mochte, dass Lukas, der prinzipiell niemanden an sich heranließ, damals, vor fast genau zehn Jahren, ausgerechnet bei ihm eine Ausnahme gemacht hatte. Damals hatte Lukas’ Mutter aus unerfindlichen Gründen entschieden, ihr Nomadendasein zu beenden und sesshaft zu werden, und Lukas war, abrupt aus seinem kosmopolitischen Leben herausgerissen, neben Ralf auf einer deutschen Schulbank gelandet. Vielleicht war es ihre gemeinsame Leidenschaft für alles, was mit Computern zu tun hatte, die sie einander nähergebracht hatte, wenngleich Ralf schnell herausgefunden hatte, dass Lukas in einer ganz eigenen Liga spielte.
Ralf hatte die Mädchen, während Lukas die mathematischen Probleme löste.
Vielleicht war es auch ihre Verschiedenheit, die den Reiz ihrer Freundschaft ausmachte. Auf Ralf hatte Lukes Anderssein jedenfalls von Anfang an eine unerklärliche Faszination ausgeübt. Erstaunt wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er trotz all der gemeinsamen Jahre immer noch wenig über die Vergangenheit seines Freundes wusste. Lukas sprach nicht gerne über sich. Nicht einmal, wenn er getrunken hatte, zumal auch Alkohol bei ihm anders zu wirken schien als bei anderen Menschen.
Selbst am Grab seiner Mutter hatte er keinerlei Gefühle gezeigt. Das war sechs Jahre her. Danach hatte er sich jedoch für längere Zeit von der Welt verabschiedet. Er hatte die Jahre, die folgten, zum Tabu erklärt, und Ralf hatte es respektiert. Erst in den letzten beiden Jahren war die Freundschaft neu entstanden, in warmen Sommernächten am „Palast der Republik“, mit den eisernen Falken. Und dann war die Sache mit Eva passiert. Vielleicht hatte sie ja etwas verändert, doch so recht wollte Ralf noch nicht daran glauben.
Erste Dämmerungsstreifen zogen herauf, als er den Kadett in der Rosenbergstraße abstellte. Er nahm Lukas die Flasche aus der Hand, trank einen Schluck und sah ihn an. Lukes Blick war direkter als sonst, ein ungewöhnlicher Glanz lag darin.
„Alles
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