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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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sowohl überscharfen Realitätswahrnehmung als auch als real erlebten Phantasien zurechtzufinden.
    Die Uhr zeigte bereits drei Minuten nach drei, als er das Klacken der Eingangstür und kurz danach das Rücken eines Stuhles im Wartezimmer hörte. Dass Lukas zu spät kam, war eine relativ neue Entwicklung. Elvert fragte sich, ob der Grund dafür tatsächlich in dem ominösen Computerprogramm lag, an dem er gerade schrieb, über das er sich ansonsten jedoch hartnäckig ausschwieg, oder ob es nicht doch eher eine subtile Form der Abwehr war – obwohl Lukas sich ansonsten in einer für einen Asperger-Klienten ungewöhnlich vertrauensvollen Art und Weise auf die Therapie eingelassen hatte. Er schaltete den Computer ab und bat seinen Gast herein.
    Nachdem sie in den hellblauen Schalensesseln Platz genommen hatten, die auf der Fensterseite des Raumes einen kleinen, runden Tisch umschlossen, war es einige Momente still. Elvert wartete. Es gab auch eine Couch im Zimmer, die er jedoch nur selten nutzte. Für seine Klientel hatte sich eine Abwandlung des klassischen Settings als am Effektivsten erwiesen, natürlich nur für diejenigen, die analytischen Techniken zugänglich waren. Er war ein überzeugter
Bootstrapper
, also Verfechter einer Auffassung, die verschiedene theoretische Ansätze innerhalb eines bestimmten Wissenschaftsgebietes gleichwertig nebeneinander stellt, ohne einen davon zu bevorzugen. Elvert arbeitete einzelfallspezifisch mit einer Vielzahl von klassischen und neuen Techniken, teilweise auch in Kombination. Insgeheim träumte er davon, diese eines Tages zu einer völlig neuartigen, ganzheitlichen Synthese zu führen und dann in einer bahnbrechenden Veröffentlichung dem Fachpublikum zugänglich zu machen. Doch das würde wohl ein Traum bleiben. Er machte sich keinerlei Illusionen darüber, dass er durch und durch Praktiker war. Und auch, wenn er Karin Kutschers Einladung zum Kliniksymposium als hohe Ehre auffasste, konnte er sich beim Gedanken daran, auf dem Podium zu stehen, eines gewissen mulmigen Gefühls nicht erwehren. Einer gegen einen ganzen Saal – das erschien ihm als keine gerechte Kräfteverteilung. Er hielt absolut nichts von hierarchischen Strukturen und schätzte die Ausgewogenheit in der Therapiesitzung. Und er schätzte die Vorzüge des Blickkontaktes.
    Lukas’ Augen waren klar und blaugrau, mit der gewissen Unergründlichkeit, die von außergewöhnlicher Intelligenz zeugt. Etwas dunkel gerändert vielleicht an diesem Tag. Eine Bemerkung darüber lag Elvert auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Er wollte seinem Gegenüber die Eröffnung überlassen. Lukas hielt dem Blickkontakt einige Sekunden stand, starrte dann aus dem Fenster.
    „Ich glaube, das Unglück brach an dem Tag über mich herein, als ich zum ersten Mal versuchte, perfekt zu sein.“
    Der Satz kam in der für ihn typischen Art und Weise: monologisch, jedoch ohne seinen Gesprächspartner auszuschließen. Ein weiteres Mal widerstand Elvert der Versuchung einer raschen Entgegnung. Er wollte zunächst mehr hören.
    „Ich habe entsetzliche Dinge über mich herausgefunden.“
    „Zum Beispiel?“
    „Wie korrumpierbar ich bin. Wenn es hart auf hart kommt, wäre ich bereit, in Sekundenbruchteilen meine Lebensphilosophie das Klo runterzuspülen, um meinen Arsch zu retten. Ich tauge nicht zum Helden.“
    „Eine erstaunliche Aussage für jemanden, der sich gerne
Luke Skywalker
nennt.“
    „Reine Hochstapelei.“
    „Möchten Sie mir mehr darüber erzählen, in welchem Zusammenhang Sie zu diesen Erkenntnissen über sich gelangt sind?“ Verdammt! Zu schnell vorgeprescht. Postwendend bekam Elvert die Rechnung.
    „Nein. Eigentlich nicht.“
    Er versuchte es behutsamer. „Wer wollte, dass Sie ein Held sind?“
    „Beziehungsweise für wen wollten Sie einer sein …“
    Elvert lächelte in sich hinein. Eine irritierende Angewohnheit seines Klienten bestand darin, seine Fragen präzisierend umzuformulieren. Zuweilen fragte er sich, wer hier wen therapierte. In gewisser Weise war das immer der Fall – wie jede menschliche Beziehung bestand auch die therapeutische aus einem kontinuierlichen gegenseitigen Geben und Nehmen, jedoch war dies selten so evident wie hier. Elverts unorthodoxe Auffassungen zu diesem und anderen Punkten hatten ihm mehr als einmal den Spott seiner Berufskollegen eingebracht. Beim psychologischen Stammtisch – den er nur ab und an besuchte – wurde er regelmäßig damit aufzogen, dass es mit seinem

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