Der Kranich (German Edition)
okay?“
„Sicher.“
Ralf war alles andere als sicher. Er zog die Schlüssel aus Lukas’ Tasche und schleifte ihn die Treppen hinauf. Erfahrungsgemäß funktionierte der Verstand seines Freundes unter Alkohol oder Drogeneinfluss zwar immer besser, was seinen Körper jedoch nicht davon abhielt schlappzumachen.
Nachdem er Lukas unter dem Hochbett auf ein paar Kissen verfrachtet hatte, nahm er sich eine Club-Mate aus dem Kühlschrank.
„Verrätst du mir, wieso?“
„Wieso was?“
„Das letzte Mal, als du dich so zugeschüttet hast, war bei der Abifeier.“
Lukas lachte. „Vielleicht solltest du mir bei Gelegenheit mal davon erzählen.“
„Es hätte sich gelohnt, dabei zu sein … Ist es das Programm?“
Lukas schüttelte den Kopf. „Nein. Das Programm ist nur … nur ein spannendes Spielzeug, nichts weiter.“
„Was ist es dann? Eva?“
Wieder blickte Lukas Ralf mit einer Direktheit in die Augen, die ungewöhnlich war und ihn fast erschreckte.
„Ich wollte vergessen, dass wir nichts wert sind, das ist alles. Nichts Spektakuläres.“
Ralf ließ sich neben seinem Freund auf den Kissen nieder und nahm ihm abermals die Whiskyflasche aus der Hand. Nur damit Luke es nicht tat, trank er einen weiteren Schluck.
„Komm schon.“
„Okay. Es geht um den Zynismus, mit dem Institutionen durch Datenmissbrauch ihre eigenen Mitarbeiter in den Suizid treiben, die Herausgabe von Daten aber verweigern, wenn sie ein Leben damit retten könnten. Aber es sind ja nur … Freaks, um die es dabei geht. Durchgeknallte Irre, denen keiner eine Träne nachweint … – Menschenmüll.“
Stockend erzählte Lukas vom Freitod eines jungen Mannes, über den er in einem Blog gelesen hatte. Obwohl er ihn nicht persönlich gekannt hatte, brachte seine Geschichte ihn sichtlich aus der Fassung. Weil er sich mit ihm identifiziert, vermutete Ralf, während er ruhig zuhörte.
„Er könnte noch leben, wenn der Provider die Adresse sofort rausgegeben hätte. Juristisch ist das völlig wasserdicht, es war ihnen nur einfach … gleichgültig.“
Schweigend lagen sie nebeneinander, bis es im Zimmer hell wurde und Lukas einschlief. Vorsichtig stand Ralf auf und schloss lautlos die Wohnungstür hinter sich.
Während er unter der Morgensonne den Schattenring entlangfuhr, dachte er über die Geschichte nach, die Lukas erzählt hatte, und er dachte an die Programmzeilen, die er Stunden zuvor für einen flüchtigen Augenblick auf dem Bildschirm gesehen hatte.
Er konnte nicht verhindern, dass ihn ein ungutes Gefühl beschlich.
2
„Hi, Bro.“
Ich zuckte zusammen und sah von meinem Notebook auf, wo die Symbole auf dem Desktop bereits zu verschwimmen begannen. Sie kam im richtigen Moment – aber sie hatte ja schon immer ein erstaunliches Gespür für Timing gehabt. Vor den eisblumenbeglänzten Fensterscheiben zeigte sich der erste silbrige Schimmer der heraufziehenden Morgendämmerung. Der zweite Morgen, seit Ralf nach unserem nächtlichen Ausflug nach Hause gefahren war. Inzwischen bombardierte er mich mit Mails, Anrufen und SMS. Nichts davon hatte ich beantwortet. Abgesehen von ein oder zwei Sandwichpausen hatte ich die Zeit praktisch ununterbrochen am Computer verbracht, und wieder bildete ich mir ein, einen entscheidenden Schritt weiter zu sein. Doch in den letzten Stunden fiel es mir in zunehmendem Maße schwer, die Augen offen zu halten.
Als ich sie anblickte, begann sie zu lachen, und die großen Ohrringe unter ihren schwarzen Locken klirrten leise.
„Habe ich dich vielleicht erschreckt?“
Ich zwang mich, meinen Blick wieder auf die endlose Reihe von Zahlen und Zeichen zu richten. „Wie könntest du mich erschrecken?“
Spielerisch legte sie die Arme um meinen Hals. „Faltest du mir einen Schwan, Luke Skywalker?“
Unter Aufbietung all meiner Kräfte versuchte ich, meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm zu konzentrieren. „Jetzt nicht, Maya, ich habe zu arbeiten.“
Unbeeindruckt ließ sie sich in den Sessel fallen und schlug die Beine übereinander. Die Kälte im Zimmer schien sie nicht im Mindesten zu stören.
„Sieh mich an, Bro. Ist dir dein Computer wirklich wichtiger als ich?“
„Er ist berechenbar. Außerdem hat Dr. Elvert gesagt …“
„Ich weiß schon, dass dein Shrink mich nicht leiden kann. Was hat er denn über mich gesagt?“
„Nichts. Er kennt dich ja überhaupt nicht. Nur, dass ich mich durch dich nicht ablenken lassen soll.“
„Und er hat immer recht, ja?“
„Meistens.“
„Wie ist
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