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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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halb so alt wie er selbst – doch er schien ganz okay zu sein.
    Um Punkt elf Uhr saß Thomas Lamprecht vor David Reichs Schreibtisch.
    Der hatte ihm die Hand geschüttelt, ihm einen wässrigen Kaffee angeboten und sich nach seinem Befinden erkundigt. Gut, so weit, hatte er geantwortet, was sollte er auch sonst sagen? Dass er vor Angst um das Leben seiner Freundin und deren sechsjähriger Tochter fast wahnsinnig wurde, vielleicht? Dass er innerhalb von einer Woche knapp zehntausend Euro auftreiben musste und nicht den blassesten Schimmer hatte, wie er es anfangen sollte? Dass ihm der Kopf fast zerplatzte und er dringend einen kräftigen Zug durch die Lunge brauchte? Oder wenigstens einen durch die Nase? Was hätte das für einen Sinn gehabt? Tatsächlich gab es nur eines, was er in diesem Moment mit absoluter Bestimmtheit wusste: dass er nie, niemals und unter keinen Umständen wieder an den Ort zurückkehren würde, an dem er die letzten drei Jahre seines Lebens verbracht hatte. Nicht solange er noch atmete jedenfalls.
    „Das freut mich zu hören! Dann haben Sie Ihr erstes Wochenende in Freiheit also genossen. Das sollten Sie auch, denn es ist ungewöhnlich, dass ein so großer Teil der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Das haben Sie Ihrer exzellenten Führung zu verdanken. Wie haben Sie sich Ihre unmittelbare Zukunft nun weiter vorgestellt?“
    „Was … genau meinen Sie?“
    „Nun, fangen wir mal mit dem Wohnen an. Einstweilen sind Sie ja bei Ihrer Lebensgefährtin untergekommen, aber ist das eine Lösung auf Dauer? Ansonsten gäbe es mehrere Möglichkeiten …“
    „Doch, ich denke schon. Ich … wir … wollen das versuchen.“
    „Platz genug gibt es?“
    „Doch, das geht schon. Vorher … ich meine, da haben wir ja auch …“
    „Falls es Probleme geben sollte, könnte ich Ihnen einen Wohnheimplatz anbieten, bis Sie etwas Eigenes gefunden haben.“
    „Danke, aber ich denke, das wird nicht nötig sein.“
    „In Ordnung. Wie sieht es mit Arbeit aus? Waren Sie schon beim Arbeitsamt?“
    „Ich werde mich heute noch darum kümmern.“
    „Was hatten Sie sich denn vorgestellt?“
    „Na ja, einen Fahrerjob kriege ich bestimmt wieder. Ich bin ein guter Fahrer, wissen Sie.“
    „Halten Sie mich auf dem Laufenden. Was ist mit Geld? Haben Sie Schulden?“
    „Nein … nein, nein. Keine Schulden.“
    „Bis Ihre Anträge auf dem Arbeitsamt bearbeitet sind oder Sie ein erstes Einkommen erhalten, haben Sie Anspruch auf Sozialhilfe, das wissen Sie?“
    „Ja.“
    „Gut. Kommen wir zum letzten Thema für heute. Wie sieht es mit Drogen aus?“
    „Wie bitte?“
    „Was für Drogen nehmen Sie zurzeit?“
    „Keine.“
    „Überhaupt keine?“
    „Von einem Bier und einer Zigarette abgesehen …“
    „Da Ihre Straffälligkeit in unmittelbarem Zusammenhang mit Ihrer Suchterkrankung stand, hat die Staatsanwaltschaft, wie Sie ja bereits wissen, als Bedingung für die Bewährung eine Rückfallpräventionsmaßnahme angeordnet. Das bedeutet konkret den regelmäßigen Besuch einer Verhaltenstherapie. Es gibt einen hervorragenden Suchttherapeuten, der bereits seit Jahren mit uns zusammenarbeitet …“
    „Ich verstehe nicht – ich dachte, die Therapie findet hier statt?“
    „Nein. Das ist nicht möglich. Hier bei uns gibt es nur eine psychotherapeutische Begleitung für Sexualstraftäter. Und zu dieser Personengruppe zählen Sie ja nicht.“
    „Darauf können Sie wetten!“
    „Eben. Nein, Gustav Elvert ist ein wirklich guter Mann, ich kenne ihn persönlich. Zu ihm können Sie Vertrauen haben. Hier, ich habe Ihnen seine Daten aufgeschrieben.“ David Reich reichte einen handgeschriebenen Zettel über den Tisch. „Falls es von Ihrer Seite sonst nichts gibt, würde ich vorschlagen, Sie machen sich sofort auf den Weg und erledigen die Behördengänge, denn heute um sechzehn Uhr haben Sie bereits Ihren ersten Termin bei ihm.“
    Thomas Lamprecht blickte wenig begeistert auf den Zettel in seiner Hand. „In Vaihingen?“
    „Zehn Minuten mit der U1. Ach ja, bevor ich’s vergesse: Er beschäftigt keine Sekretärin. Falls Sie ein paar Minuten vorher da sind, sollen Sie bitte nicht klingeln, um den vorangehenden Termin nicht zu stören, sondern einfach die Praxistür aufdrücken und im Wartezimmer Platz nehmen.“
    „Hören Sie, es ist dringend. Und es ist auch keine große Sache. Es muss nur das Schloss ausgetauscht werden. Mehr als eine halbe Stunde Arbeit kann das nicht sein!“
    Gustav Elvert verwünschte sich.

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