Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Jeff, während er die Treppe zum Erdgeschoss hinabstieg. Das wollte er natürlich nicht. Mutlos graste er die Räume dort ab. Als er die Eingangshalle schon fast erreicht hatte, hörte er plötzlich Schritte. Schnell verbarg er sich hinter einer großen Standuhr.
Zwischen dem hölzernen Uhrenkasten und der Wand befand sich ein schmaler Spalt, gerade weit genug, um Jeff hindurchspähen zu lassen. Es war der Herr über Messer und Gabeln, der sich da mit besorgter Miene vom Entree her näherte, ein kleiner, rundlicher Mann. Er hielt noch immer seinen Messstab in der Hand.
Jeff stockte der Atem. Wenn der Mann nicht völlig in Gedanken versunken war, musste er ihn im Vorbeigehen unweigerlich entdecken. Hastig sah sich Jeff nach einem besseren Versteck um, fand jedoch keines, das er erreichen konnte, ohne sich selbst zu verraten. Der Livrierte kam immer näher. Jeff schloss die Augen, als würde er dadurch unsichtbar. Noch drei, vier Schritte…
Ein unerwartetes Klopfen ließ ihn aufmerken. Vorsichtig hob er die Lider und spähte durch den Schlitz hindurch. Auf der anderen Seite des Uhrenkastens stand der Diener, das Gesicht gegen die Wand gerichtet… Nein, es war eine Tür – Jeff hörte ein knarrendes Geräusch, sah fahles Licht auf dem bangen Gesicht des Mannes und vernahm dann die unverkennbare Stimme.
»Tretet näher, Joseph. Gibt es irgendwelche Probleme?«
Negromanus! Dieses hohe Timbre, dieses schnelle Schwingen wie von einer losgelassenen Bogensehne und dazu dieser gleichgültige, kühl distanzierte Ton – Jeff hatte ihn sofort wieder erkannt. Durch den Spalt hinter der Wanduhr sah er den Bediensteten in das Zimmer treten.
»Entschuldigt, Sir Negromanus, dass ich Euch damit belästigen muss, aber Ihr selbst habt angeordnet Euch über jede, wenn auch noch so kleine Unregelmäßigkeit in Kenntnis zu setzen.«
»Schon gut, Joseph. Warum schwitzt Ihr so?«
»Einer unserer Aushilfspagen ist nicht zum Dienst erschienen.«
»Ihr redet von Eurer Serviermannschaft? Wollt Ihr damit sagen, dass Euch für das heutige Dinner keine elf Diener zur Verfügung stehen?«
»Es handelt sich um den Neffen des Paters von Tunbridge Wells, der sich – ein Bote der Familie hat die Nachricht soeben überbracht – außerstande sieht seinen Dienst anzutreten. Pater Garrick habe das Fieber niedergestreckt oder der Schlag getroffen oder…«
»Mir ist bekannt, was mit dem Pfaffen passiert ist«, schnitt Negromanus dem Untergebenen das Wort ab. »So wie er immer gegen unseren Herrn gewettert hat, fällt es mir schwer, sein Ableben zu bedauern. Aber nun zu unserem eigentlichen Problem. Die ganze Küche ist doch voll von Personal. Könnt Ihr nicht von dort einen Servierburschen ausleihen?«
»Rodari will keinen von seinen Leuten zur Verfügung stellen. Wenn er denn jemanden entbehren könne, dann höchstens eine Frau.«
»Lächerlich! Der Lord duldet kein Weib an seiner Tafel. Ihr wisst das. Was ist mit dem Jungen aus Tunbridge Wells?«
»Sir?«
»Er heißt Jeff Fenton. Ich habe ihn heute morgen persönlich für den Küchendienst eingestellt.« Negromanus’ Vibratostimme verbreitete jetzt eine geradezu spürbare Kälte, aber auch die Furcht in Josephs Antwort war nicht zu überhören.
»Mir ist zu Ohren gekommen, Sir, dass ein Junge fortgeschickt wurde, weil Rodari lieber seine Tochter als Ersatz für das erkrankte Küchenmädchen einsetzen wollte.«
Inzwischen hatte sich Jeff leise von seinem Horchposten entfernt, hauptsächlich in der Absicht eine sichere Fluchtposition zu beziehen. Doch nun war plötzlich eine unangenehme Stille in dem Zimmer eingetreten, die ihn zur Bewegungslosigkeit verurteilte, wollte er sich nicht verraten.
Jeff schaute durch die halb geöffnete Tür, die zuvor den Obersten des Servierpersonals verschluckt hatte. Zum Glück war der gerade außer Sichtweite. Dadurch hatte der Junge einen unverstellten Blick auf einen wuchtigen Schreibtisch aus Buchenholz. Der Dieb in ihm bemerkte sogleich das wichtigste Detail des wuchtigen Möbels: Auf der Schreibplatte blitzte ein Kreis goldener Ringe.
Es mochten nur zwei Herzschläge gewesen sein, die Jeff zur Betrachtung dieser ungewöhnlichen Konstellation hatte. Aber diese genügten, um seine Neugier zu wecken. Wozu brauchte ein einzelner Mensch so viele Ringe? Und diese kreisförmige Anordnung auf einem hellen Blatt Papier oder Pergament – fast so, als hätte Negromanus aus Langeweile damit herumgespielt. Der Schreibtisch stand vor einer zweiflügligen
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