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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bewegte. Der gelbe Schein des Lichts zog ihn wie magisch an. Vorsichtig schlich er auf den Nordflügel zu.
    Wie schon seine vorherige Flucht in die Deckung der Schatten, so entsprang auch die raubtierhafte Annäherung an das erleuchtete Zimmer einer Art Reflex. Es war ein Verhalten, das er sich in den letzten beiden Jahren anerzogen hatte. Erst kurz vor dem Fenster wurde ihm bewusst, was er da tat. Doch nun, da er schon einmal hier war, konnte er seine Beobachtung genauso gut fortsetzen.
    Er zählte insgesamt fünf dicht gestaffelte zweiflüglige Glastüren, die in den Park hinausführten. Das Mauerwerk zwischen den hohen weiß gestrichenen Rahmen war höchstens eine Hand breit. Dadurch konnte Jeff, anders als am Nachmittag, nun den ganzen Raum überblicken – allerdings mehr schlecht als recht. Die einzige Lichtquelle in dem mit Regalen voll gestopften Zimmer war nämlich eine Petroleumlampe auf der Schreibtischplatte. Andere Teile des ungewöhnlich großen Arbeitszimmers waren in tiefe Schatten getaucht.
    Jeff kauerte hinter einem Busch. Ein Frösteln überlief ihn, als er die dunkle Gestalt hinter den Fenstern wieder erkannte: Kaum zehn Schritte von ihm entfernt stand Negromanus, sein langer Schatten schien regelrecht vor der Schreibtischlampe über Fußboden und Wände zu fliehen. Doch dann stutzte Jeff. War es wirklich die rechte Hand des Lords, die er da sah? Er kniff die Augen zusammen.
    Die Figur kam ihm jetzt kleiner und weniger massiv als noch am Morgen vor, auch fehlte der breitkrempige Hut. Zu dumm, dass diese Person nicht näher beim Licht stand. Alles war so undeutlich! Da gab es ein wallendes schwarzes Gewand, das fast jede Kontur des hohen Körpers verwischte. Auch der Kopf des Mannes lag unter einem Schleier tiefer Schatten; man konnte fast glauben ihn nur durch eine beschlagene Fensterscheibe zu sehen. Augen und Mund ließen sich nur erahnen. Die Existenz einer Nase war reine Spekulation. Der Schemen schien mit jemandem zu sprechen, aber Jeff vermochte weder zu erkennen, mit wem, noch ließ sich auch nur ein einziges Wort verstehen. Er hätte zu gerne gewusst, was dieses seltsame Selbstgespräch bedeutete.
    In diesem Moment bemerkte er, dass eine der quadratischen Scheiben zersprungen war. Es handelte sich um die Tür ganz rechts, dort wo der Raum am dunkelsten war. Dicht daneben befand sich ein Busch. Jeff überlegte nicht lange. Er schlich sich noch näher heran.
    Im Gittermuster der Terrassentür befand sich das beschädigte Fensterquadrat in der zweitletzten Reihe von unten. Ein kleiner Riss zog sich diagonal durch das Glas und an der oberen Ecke war ein ganzes Stück herausgebrochen. Jeff hatte sich inzwischen so weit an den Durchlass herangearbeitet, dass er im Knien sein Ohr ganz dicht an das Fenster heranbringen und gleichzeitig das Geschehen hinter der Tür weiter im Auge behalten konnte.
    Die Gestalt im Zimmer stand jetzt nicht mehr still. Wie ein dunkler Mönch bei einer Prozession schritt sie langsam durch den Raum, mal ihren Schatten mit sich schleifend, dann wieder ihn vor sich her schiebend. Wortlos. Jeff war enttäuscht. Er hatte seinen Lauschposten umsonst bezogen. Als der wandelnde Schemen seinem Versteck auf einmal ganz nahe kam, packte den Jungen jäh die Angst. Bei der nächstbesten Gelegenheit zog er sich wieder leise zurück und setzte seine Beobachtungen aus sicherer Entfernung fort.
    Noch immer wanderte die Gestalt durch das Zimmer. Was tat sie da? Warum befand sie sich nicht drüben im Wappensaal? Jeff meinte bleiche Hände zu erkennen, die sich wie zum Gebet vor der Brust umfassten. Aber angesichts dieses unheimlichen Anblicks zweifelte er daran, hier einem frommen Akt beizuwohnen. Als der Schatten gerade von einer Glastür zur nächsten wechselte, bemerkte Jeff ein kurzes Aufblitzen an den gefalteten Händen. Im nächsten Augenblick waren die bleichen Finger hinter dem schmalen Mauersteg verschwunden. Unwillkürlich musste er zum Schreibtisch hinübersehen. Täuschte er sich oder fehlte tatsächlich in dem Kreis aus Siegelringen einer, den er am Nachmittag noch gesehen hatte? Doch, es war der auf der Zwölfuhrposition, vom Fenster aus betrachtet. Als Jeff wieder zu dem wandelnden Schatten hinblickte, fuhr ihm der Schreck in die Glieder – denn nun sah er zwei Gestalten im Raum.
    Er war so benommen, dass er aus der Hocke rücklings auf sein Hinterteil rutschte. Seine Beine fühlten sich wie Pudding an. Sein Herz raste mit einem Mal in der Brust. Wie war das möglich?

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