Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Haupteingang spazieren. Von hier jedoch konnte er überraschend zuschlagen und anschließend auch wieder unauffällig verschwinden. Wenn man ihn ließ.
Das zu verhindern war Davids vordringlichstes Ziel.
Zunächst unterzog er den Raum einer genauen Untersuchung. In einer Ecke stapelten sich mehrere kleinere Kisten. David hob einen Deckel an und erblickte gebündelte Räucherstäbchen. Da es ansonsten nur wenige andere Gegenstände gab, war die Erkundung schnell erledigt.
Hinter einer weiteren Tür entdeckte er eine kleine Rumpelkammer. Hier lagerten Spaten, Harken, eine Trommel, Weihrauchgefäße, eingestaubte Meditationskissen und sogar einige Urnen. Während sich David mit gezücktem Kurzschwert zwischen Geräten und Gerümpel hindurchschlängelte, hatte er Mühe, seinen weißen Seidenkimono nicht zu beschmutzen. Sein Kontrollgang war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Er glaubte nicht wirklich, Negromanus hier aufzustöbern – dessen Gegenwart hätte er zweifellos längst gefühlt.
Und genau das war auch der Punkt, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. Auf dem Schloss seines Adoptivvaters, des Duke of Atholl, hatte David das Nahen des Schemens schon früh gespürt. Aber hier empfand er nichts dergleichen. In seinem Geist stieg einmal mehr das Bild aus seinem Alptraum auf: Negromanus war an ihm vorübergezogen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Dafür musste es irgendeinen tieferen Grund geben, aber er kam einfach nicht dahinter, welchen. David wurde immer unruhiger. Ihn beschlich das Gefühl, gerade einen schweren Fehler zu machen.
Voll unguter Ahnung bezog er Stellung hinter dem Türgitter, das ihm einen freien Blick in die Knochenhalle gewährte, während er zugleich den Ausgang im Auge behalten konnte.
David wartete. Ab und zu kamen Besucher zu den Nischen, in denen die Urnen ihrer verblichenen Angehörigen untergebracht waren. Manche brachten den Ahnen auch ein Schälchen Reis mit, andere sprachen mit ihnen. Der Tod zwang eine »abgeschiedene Seele« zur Ruhelosigkeit. Folglich musste diese nach shintoistischem Glauben einen Prozess der Läuterung erfahren, der sie von jedem Willen zur boshaften Einmischung in das Leben der Hinterbliebenen befreite, bis nur noch ein friedlicher, wohlwollender Charakter verblieb. Eine derart gereinigte Ahnenseele konnte dann als Beschützer der Familie fungieren. Kein Wunder, dass die Hinterbliebenen regelmäßig nach dem Wohlbefinden ihrer Ahnen »sahen«, sie über aktuelle Entwicklungen der Sippe auf dem Laufenden hielten und gelegentlich um Hilfe und Beistand baten.
Allmählich trafen die ersten Trauergäste ein. Der Zweig des Ito-Clans, dem Yoshi angehört hatte, verfügte in der Knochenhalle über ein eigenes Wandsegment, das als Familiengrabstätte diente. In pietätvollem Schweigen gruppierte man sich um die offene Nische, die Yoshis Asche aufnehmen sollte.
Weil die Itos eine sehr traditionsbewusste Familie waren, kamen die meisten Gäste in Weiß. Yoshiharu Ito hatte im Auswärtigen Amt eine wichtige Position innegehabt, weswegen auch einige ausländische Diplomaten erschienen. Unter den schwarz gekleideten Besuchern war jedoch niemand, der Negromanus auch nur annähernd glich: auffallend groß, gehüllt in einen wallenden Umhang, das fahle Gesicht unter einer breiten Hutkrempe verborgen und eine beinahe körperlich spürbare Kälte ausstrahlend.
David blickte zwischen Gitter und Hinterausgang hin und her. Bisher hatte keiner seiner außergewöhnlichen Sinne Alarm geschlagen. Wo blieb Negromanus nur?
Ein Priester betrat nun die Halle, gefolgt von zwei Helfern, welche die Urne auf einer Art Tablett hinter ihm hertrugen. Kurz darauf begann der Beisetzungsritus. David bemerkte, wie Saionji unter dem Singsang des Priesters immer wieder den Hals reckte und zum Eingang der Halle blickte. Er konnte sich denken, wen der Vetter Yoshis erwartete. David hatte ihm ja versprochen, dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen, auch wenn er sich möglicherweise verspätete.
Während die Zeremonie ihren Lauf nahm, wurde David immer unruhiger. Etwas stimmte nicht. Negromanus war nicht hier. Er konnte zwar nicht sagen, woher er diese Gewissheit nahm, aber sein Gefühl hatte ihn noch nie im Stich gelassen. In der Westminster Abbey, beim Tod seiner Eltern, auf dem Schlachtfeld in Frankreich, in der Hochzeitsnacht auf Blair Castle – jedes Mal hatte es David gespürt, wenn Negromanus seinen Weg kreuzte…
Er erschrak, ein furchtbarer Verdacht keimte in ihm. Er warf einen letzten
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