Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
und Tokyo verzeichnet waren. Die Straßen seien nicht immer gut, hatte der Agent ungerührt angemerkt. Die Bombardements hätten die Küstenroute an einigen Stellen zerstört, weswegen mit Umwegen zu rechnen sei, aber David solle sich keine Sorgen machen, das Automobil sei sehr solide und könne auch größere Schlaglöcher spielend überwinden.
Zunächst musste David erst einmal die Stadt verlassen. Er überquerte eine Brücke, die den sich träge nach Süden wälzenden Ota überspannte. Der Fluss ergoss sich nach etwa drei Kilometern ins Binnenmeer. Zu seiner Linken sah David die Silhouette eines Gebirgszuges. Hiroshima lag wirklich malerisch, ein Ort, an dem sich Menschen wohl fühlen konnten – wären da nicht die Entbehrungen des Krieges gewesen.
Nachdem er sich zweimal verfahren hatte, gelangte David endlich in die östlichen Außenbezirke der Stadt. Er bog nach Nordosten in jene Straße ein, die, wie er meinte, nach Saijo führen müsste. Irgendjemand hatte – zur Verwirrung eventueller Invasoren – an der Gabelung den Wegweiser entfernt. Kurz hinter der Abzweigung drückte David auf die Bremse und blieb am Straßengraben stehen. Er drehte sich noch einmal um. Wenn er sich wieder verfuhr und womöglich irgendwo in den Bergen landete, würde er nie rechtzeitig in Osaka eintreffen.
Unentschlossen betrachtete er die vor ihm liegende Stadt und seufzte. Er nahm sich wohl besser noch einmal die Karte vor…
In diesem Moment hörte er ein Geräusch. Unwillkürlich blickte er nach oben, zu den Wolken hinauf, die den Morgenhimmel wie blauen Marmor aussehen ließen. Nirgends war ein Flugzeug zu sehen, aber das tiefe Brummen war eindeutig.
»Ich könnte schwören, du bist eine B-29«, flüsterte er und beschirmte die Augen mit der Hand, um besser die Wolken über Hiroshima absuchen zu können. »Wo steckst du nur?« Mit einem Mal entdeckte er etwas.
Hoch oben sah er einen länglichen Gegenstand an einem Fallschirm aus den Wolken gleiten. Eine furchtbare Ahnung beschlich David. Sie kroch aus jenen Tiefen des Unterbewusstseins hervor, die gewöhnlich den Alpträumen als Schlupfwinkel dienten. Er schaute auf die Uhr. Es war ungefähr fünfzehn Minuten nach acht. Die Datumsanzeige stand auf Montag, dem 6. August. Man hatte ihn belogen. Voll bitteren Zorns wurde ihm bewusst, was da – einen Tag zu früh! – so sanft herabschwebte: Little Boy!
Im nächsten Augenblick packte ihn nacktes Grauen. Er sah alles voraus. Instinktiv riss er die Autotür auf, um sich mit einem Hechtsprung in den Straßengraben zu werfen. Dort kauerte er sich nieder, kniff die Augen zu und verschränkte die Hände über dem Kopf – und konnte noch hinter geschlossenen Lidern den gleißenden Lichtblitz erkennen.
Danach passierte einige Sekunden lang nichts, bis plötzlich ein ungeheuerlicher Donnerschlag die Stille zerriss, die Erde selbst schien zu zerbersten. In seinem Gefolge raste eine gewaltige Druckwelle über David hinweg. Ohne die Deckung wäre er zweifellos wie ein Papierkarpfen bei einem stürmischen Koi-nobori-Fest einfach fortgeweht worden.
Als der gewaltige Sturmwind abflaute, richtete sich David langsam wieder auf. Zuerst bemerkte er, dass der Wagen verschwunden war. Er entdeckte ihn etwa zweihundert Meter weiter unten an der Straße. Die Limousine war zwar verbeult – vermutlich hatte sie sich sogar überschlagen –, die meisten Scheiben fehlten, aber wie durch ein Wunder stand sie auf den Rädern.
Benommen kletterte er dann auf die Straße zurück, um auf die Stadt hinabzusehen. Aus dem Zentrum Hiroshimas stieg eine gigantische Rauchsäule empor, strebte der Stratosphäre entgegen und breitete sich dort kreisförmig aus. Im direkten Einflussbereich der pilzförmigen Wucherung gab es keine Häuser mehr: Sie waren samt ihren Bewohnern verschwunden. Vier Fünftel Hiroshimas waren einfach ausradiert. Nur einige wenige Steingebäude ragten noch aus der wie planiert erscheinenden grauen Stadtfläche auf.
David war fassungslos. Noch wusste er nicht, dass da unten in einem einzigen Augenblick mehr als einhunderttausend Menschenleben ausgelöscht worden waren, dass fast genauso viele an den Folgen radioaktiver Verstrahlung sterben, dass auf Jahrzehnte hinaus Krebs und Missbildungen die Überlebenden quälen würden. Mit Tränen in den Augen erhob er wieder den Blick zu dem Pilz am Himmel. Die Sonne war verfinstert, als wolle sie nie mehr scheinen.
Der Rat der Toten
Es war zum Haareausraufen! Warum nur hatte er
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