Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
seine elf Getreuen zusammenhielt, aber – nicht zuletzt Jasons Geschichte hatte dies eindeutig belegt – die goldenen Ringe spielten in der Verbindung eine zentrale Rolle.
Papen kam David auch irgendwie verändert vor. Sie hatten sich zwar nur ein einziges Mal Auge in Auge gegenübergestanden, eigentlich kannte er seinen Gegenspieler nur aus Reden, Wochenschauen und Zeitungsberichten, aber das vor Jahren sorgfältig aufgebaute Bild dieses Mannes stimmte nicht mehr. Papen wusste sich durchaus zu verteidigen. Er schien im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein, litt aber unter merkwürdigen Gedächtnislücken. Im Verlauf des Prozesses musste sich David mehr und mehr mit der für ihn kaum erträglichen Möglichkeit anfreunden, dass der Steigbügelhalter Hitlers sogar freigesprochen werden könnte. Eigentlich hätte ihn dies bei einem Logenbruder Belials nicht verwundern dürfen – der Kreis hatte so seine Mittel –, aber David wollte sich dennoch nicht damit abfinden.
Voller Elan machte er sich wieder an die Arbeit. Mit seiner Aura der Wahrhaftigkeit wirkte er unermüdlich auf die Chefankläger der vier Siegermächte ein, die ganz und gar auf seiner Seite standen. Er sprach mit Anton Pfeiffer, dem bayerischen Minister für Entnazifizierung, der ihm Unterstützung zusicherte. Verschiedene Zeugen der Anklage und andere Prozessbeobachter ließen sich von seinen Wahrheitstropfen stärken. Als besonders empfänglich erwies sich ein begeisterungsfähiger junger Jude namens Zvi Aharoni, der dem britischen Field Security Service angehörte und in Nürnberg als Dolmetscher arbeitete. Auch die Richter »interviewte« David, mit aller gebotenen Vorsicht natürlich. Sie verwiesen auf die Anklagepunkte. Hatte Papen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit begangen?
Einmal mehr musste David zähneknirschend die Raffinesse Papens konstatieren. Er hatte Hitler auf den Thron gehoben, ihm die Anerkennung der katholischen Kirche und damit den Respekt der Welt verschafft, ihm Österreich in die Arme getrieben und zuletzt als Botschafter in Ankara immer wieder die alte deutsch-türkische Waffenbrüderschaft des Ersten Weltkrieges beschworen, damit sich das neutrale Land am Bosporus nur nicht auf die Seite der Alliierten schlug.
In Nürnberg hatte David Sir Lloyd Ayckbourn, seinen alten Agentenführer aus Berliner Tagen, wieder getroffen. Dem Wahrheitsfinder war es nicht schwer gefallen, dem schon etwas zerstreuten »Väterchen« einige aufschlussreiche Details über Papens Aktivitäten in Ankara zu entlocken. Unter dem Mantel der Verschwiegenheit erzählte der inzwischen pensionierte Geheimdienstler von Papens Machenschaften in der Türkei. Es hieß sogar, der deutsche Botschafter habe die Spionageergebnisse eines berüchtigten deutschen Topagenten nach Berlin weitergeleitet.
Wie auch immer, David war dennoch erschüttert, als der grauhaarige Mann in der Mitte der zweiten Reihe der Anklagebank am 1. Oktober freigesprochen wurde. Franz von Papen zeigte kaum eine Regung. Hatte ihm jemand zugesichert, dass er nicht am Galgen enden würde?
Erneut fühlte sich David kaltgestellt. Während des Prozesses hatten ihm die Militärbehörden ein persönliches Gespräch mit dem schwer bewachten Angeklagten verweigert und nach dessen Freispruch wich Papen dem Time-Reporter immer wieder geschickt aus. Davids Zorn flammte auf. Einmal mehr musste er sich klar machen, was seine eigentliche Aufgabe war: Er wollte nicht als Schlächter durch die Welt laufen, den Kreis der Dämmerung mit dem Schwert zerschlagen wie einst Alexander den Gordischen Knoten. Es genügte ja, den Bund bloßzustellen und, wenn möglich, aufzusprengen. Um eine Ankerkette unbrauchbar zu machen, muss man sie nicht gleich einschmelzen. Schon ein einziges beschädigtes Kettenglied schwächt sie, ein gebrochenes kann den Untergang des ganzen Schiffs bedeuten. Es genügte also, Belials Logenbrüder ihrer Macht und ihres Einflusses zu berauben – und, falls es irgendwie ging, auch ihrer Ringe.
Da gab es noch einen anderen, vermeintlich schnelle ren Weg. Vernichtest du jedoch den Fürstenring, sterben alle Ringträger in einem Nu. Die Worte aus Jasons jahrtausendealtem Vermächtnis gingen David oft durch den Sinn. Doch bisher hatte keine Form von Gewalt dem Siegelring, den er Tag und Nacht an einer goldenen Kette um den Hals trug, etwas anhaben können. Ohne den geringsten Kratzer aufzuweisen, schien ihn dieses geheimnisvolle Schmuckstück
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