Der Krieg am Ende der Welt
gekämpft hatte. Warum hatte er ihn auch dieses zweite Mal nicht töten wollen? Er hörte noch einen Kanonenschuß, diesmal ganz deutlich, und das Aufheulen von Trompeten, diesen schauerlichen Ton, der sich wie eine Totenklage anhörte. Wie im Traum sah er Rufino und Jurema zwischen den Bäumen auftauchen. Der Spurensucher war schwer verletzt oder erschöpft, er stützte sich auf sie, und da wußte Gall, daß Rufino die ganze Nacht lang im finstern Wald nach ihm gesucht hatte, unermüdlich. Er spürte Haß auf diesen Starrsinn, diese gradlinige und unverrückbare Entschlossenheit, ihn zu töten. Sie sahen sich in die Augen und Gall zitterte. Er zog das Jagdmesser aus dem Gürtel und deutete damit in die Richtung, aus der die Trompetensignale kamen:
»Hörst du?« sagte er. »Deine Brüder werden niederkartätscht, sie sterben wie die Fliegen. Du hast mich daran gehindert, nach Canudos zu gehen und mit ihnen zu sterben. Du hast einenblöden Clown aus mir gemacht.« Rufino hielt eine Art hölzernen Dolch in der Hand. Gall sah, wie er Jurema losließ, sie wegschob und sich duckte, um ihn anzugreifen:
»Ein komischer Vogel bist du, Gall«, hörte er ihn sagen.
»Immerfort redest du von den Armen, aber den Freund verrätst du und beleidigst das Haus, in dem du Gastfreundschaft genossen hast.«
Blind vor Wut brachte ihn Gall zum Schweigen, indem er sich auf ihn warf. Sie begannen sich gegenseitig zu zerfleischen, und Jurema sah ihnen zu, blöde vor Angst und Mattigkeit. Der Zwerg steckte den Kopf zwischen die Knie.
»Ich werde nicht sterben wegen so einer Lächerlichkeit, Rufino«, heulte Gall. »Mein Leben ist mehr wert als ein bißchen Samen, du Trottel.«
Sie wälzten sich auf dem Boden, als zwei Soldaten angerannt kamen. Jäh blieben sie stehen, als sie die Kämpfenden sahen. Ihre Uniformen waren halb zerfetzt, einer ging barfuß, die Gewehre hatten sie im Anschlag. Der Zwerg legte die Arme um seinen Kopf. Jurema lief auf die Soldaten zu, vertrat ihnen den Weg, bat:
»Schießen Sie nicht, sie sind keine Jagunços.«
Doch die Soldaten schossen aus nächster Nähe auf die zwei Gegner und machten sich dann feixend an Jurema heran, zerrten sie auf ein paar dürre Büsche zu. Der Phrenologe und der Spurensucher, beide schwer verletzt, kämpften weiter.
Ich sollte mich freuen, denn es bedeutet ja, daß alles leibliche Leiden endet, daß ich den Vater und die Heilige Jungfrau sehen werde, dachte Maria Quadrado. Doch tief innen saß ihr die Angst, und sie gab sich alle Mühe, sie vor den frommen Frauen zu verbergen, denn wenn sie sie bemerkten, würde sie auf sie überspringen und das zum Schutz des Ratgebers errichtete Gebäude würde zerfallen. Und in den nächsten Stunden, dessen war sie sicher, würde der Heilige Chor nötiger sein denn je. Sie bat Gott um Vergebung für ihre Feigheit und versuchte zu beten, solange der Ratgeber und die Apostel berieten, wie sie es immer tat und die frommen Frauen zu tun gelehrt hatte. Aber sie konnte sich auf das Credo nicht konzentrieren. João Abadeund João Grande bestanden schon nicht mehr darauf, ihn in den Unterstand zu bringen, doch der Straßenkommandant versuchte ihm auszureden, daß er durch die Schützengräben ging: Der Krieg könne ihn im Freien überraschen, Vater, ohne jeden Schutz.
Der Ratgeber diskutierte nie und tat es auch diesmal nicht. Er schob den Kopf des Löwen von seinen Knien und bettete ihn auf den Boden, wo der Schreiber weiterschlief. Er erhob sich und auch João Abade und João Grande standen auf. Er war in den letzten Tagen noch mehr abgemagert und wirkte größer. Maria Quadrado erschauerte, als sie sah, wie verquält er war. Falten lagen um seine Augen, der Mund stand halb offen, und in dieser schmerzlichen Verzerrung lag etwas wie eine schreckliche Vorahnung. Augenblicklich beschloß sie, ihn zu begleiten. Sie tat es nicht immer, vor allem in den letzten Wochen, denn wegen der Menschenmengen auf den Straßen mußte die Katholische Wachmannschaft eine so dichte Mauer um den Ratgeber bilden, daß sie und die frommen Frauen Mühe hatten, in seiner Nähe zu bleiben. Doch nun fühlte sie sich unabweislich gedrängt, mit ihm zu gehen. Sie gab ein Zeichen, und die frommen Frauen scharten sich um sie. Hinter den Männern gingen sie hinaus, den schlafenden Löwen im Sanktuarium zurücklassend.
Das Erscheinen des Ratgebers an der Tür des Sanktuariums kam den dicht gedrängten Menschen so überraschend, daß sie keine Zeit hatten, ihm den Weg zu
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