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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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daß, so wie sie hier, Maria Magdalena dort in Judäa den guten Jesus und seine Jünger gesehen hatte, Männer, die ebenso gut und ebenso arm gewesen waren wie diese, und sicher habe sie damals, wie sie selbst in diesem Augenblick, gedacht, wie gütig der Herr war, daß er nicht die reichen Herren über Land und Capangas, sondern eine Handvoll der Ärmsten dazu auserwählt hatte, den Lauf der Geschichte zu ändern. Sie bemerkte, daß der Löwe von Natuba nicht unter den Aposteln war, und ihr Herz erschrak. War er gefallen, zertreten worden? Lag er auf dem schlammigen Boden, mit seinem Kinderkörper und den Augen eines Weisen? Sie machte sich Vorwürfe, weil sie nicht auf ihn achtgegeben hatte, und befahl den frommen Frauen, nach ihm zu suchen. Doch sie konnten sich in der Menschenmenge kaum bewegen.
    Auf dem Heimweg gelang es Maria Quadrado, João Grande zu erreichen, und eben wollte sie ihm sagen, daß der Löwe von Natuba gesucht werden müsse, als der erste Kanonenschußeinschlug. Die Menge hielt an, um zu horchen, viele starrten fassungslos in den Himmel. Da dröhnte der zweite Schuß, und sie sahen an hochgeschleuderten Holztrümmern und Funken die Explosion eines Hauses in der Nähe des Friedhofes. Unter dem Knall, der sich in Wellen ausbreitete, fühlte Maria Quadrado etwas Unförmiges Schutz suchen an ihrem Körper, und an der Mähne und dem winzigen Knochenbau erkannte sie, daß es der Löwe war. Sie nahm ihn in ihre Arme, drückte ihn an sich, küßte ihn zärtlich. »Mein Sohn«, flüsterte sie, »Söhnchen, ich glaubte, ich hätte dich verloren, deine Mutter ist glücklich, glücklich.« Weitere Unruhe kam in die Nacht durch ein langes, schauerliches Trompetensignal in der Ferne. Ohne den Schritt zu beschleunigen, ging der Ratgeber auf das Zentrum von Belo Monte zu. Um den Löwen von Natuba vor Stößen zu schützen, wollte sich Maria Quadrado dem Kreis der Männer anschließen, der sich nach der ersten Verwirrung wieder um den Ratgeber geschlossen hatte. Doch Stürze und Gedränge trieben sie ab, und der Platz zwischen den Kirchen war schon überfüllt von Menschen, als sie ankamen. Die Stimmen derer übertönend, die sich einer den andern riefen oder laut den Schutz des Himmels erbaten, befahl die mächtige Stimme João Abades, daß alle Lampen in Canudos gelöscht werden sollten. Bald war die Stadt dunkel wie ein Graben, und Maria Quadrado konnte nicht einmal mehr die Züge des Schreibers erkennen.
    Meine Angst ist vergangen, dachte sie. Der Krieg hatte begonnen, jeden Augenblick konnte ein neuer Kanonenschuß auf dem Platz, einschlagen und sie und den Löwen, wie die Bewohner des zerstörten Hauses, in einen Brei aus Muskeln und Knochen verwandeln. »Danke, Vater, danke, Mutter Gottes«, betete sie. Mit dem Schreiber in den Armen ließ sie sich, wie andere auch, zu Boden fallen, wo sie stand. Sie horchte auf Schüsse, doch es kamen keine mehr. Warum dann diese Finsternis? Sie hatte es wohl laut gesagt, denn der Löwe von Natuba gab ihr die Antwort: »Damit sie nicht auf uns zielen können, Mutter.«
    Die Glocken im Tempel des guten Jesus schlugen, und ihre metallischen Worte übertönten die Trompeten, mit denen der Hund Belo Monte einzuschüchtern versuchte. Wie ein Sturmwind des Glaubens, der Erleichterung war dieses tönendeSchwingen, das die ganze Nacht über andauerte. Er ist oben im Glockenturm, sagte sich Maria Quadrado. Ein Raunen der Dankbarkeit, der Bejahung erhob sich, als der herausfordernde, belebende Schall der Glocken die auf dem Platz versammelte Menge überströmte. Und Maria Quadrado dachte an die Weisheit des Ratgebers, der noch inmitten des Entsetzens den Gläubigen Ordnung und Hoffnung zu geben vermochte.
    Ein weiterer Schuß tauchte den Platz in gelbliches Licht. Die Explosion schleuderte Maria Quadrado hoch und hallte in ihrem Kopf. In dieser Sekunde Licht konnte sie die Gesichter der Frauen und Kinder sehen, die in den Himmel blickten, als wäre er die Hölle. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß die Trümmer und Splitter, die sie durch die Luft hatte wirbeln sehen, das Haus des Schusters Eufrasio aus Chorrochó gewesen sein mußte, der mit einem Schwarm von Töchtern, Stiefkindern und Enkeln neben dem Friedhof wohnte. Stille trat ein nach dem Schuß, und diesmal rannte niemand. Die Glocken läuteten in ungebrochener Fröhlichkeit. Es tat ihr gut, den Löwen von Natuba zu fühlen, der sich an sie drückte, als wollte er sich in ihrem alten Körper verkriechen.
    Eine Bewegung

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