Der Krieg, der viele Vaeter gatte
darauf nicht mehr ein. Sie hat den Angriff ihrer Truppen gegen Deutschland offensichtlich bereits angeordnet. Am 1. August um 19 Uhr, nach Ablauf des Ultimatums, überreicht der deutsche Botschafter in Petersburg die deutsche Kriegserklärung und zeitgleich überschreiten die ersten russischen Kavallerieverbände die deutsche Grenze.
Die Entfernung zwischen Petersburg und der deutsch-russischen Grenze in Ostpreußen und der Dienstweg zwischen dem Hof des Zaren und den russischen Schwadronschefs in ihren Aufmarschräumen an der Grenze sind – vor allem damals – viel zu weit, als daß ein Angriffsbefehl binnen einer oder auch nur weniger Stunden von da nach dort hätte durchgegeben werden können. Der Befehl zum Angriff und damit zur Kriegseröffnung gegen das noch immer abwartende Deutschland ist in Sankt Petersburg ohne jeden Zweifel schon vor der deutschen Kriegserklärung erlassen worden. Damit hat Rußland mit dem Krieg begonnen, und Deutschland hat ihn zuerst erklärt. In Versailles, vier Jahre später, werden die deutschen Kriegserklärungen als wesentlicher Teil der deutschen Alleinkriegsschuld gewertet. So darf es nicht wundern, daß Hitler 1939 daraus die Lehre zieht und eine Kriegserklärung unterläßt.
Der 30. Juli ist ein schicksalsschwerer Tag gewesen. Kaiser Wilhelm II. versäumt es, an jenem Krisentag die Tätigkeiten von Kabinett und Militär zu bündeln und den Chef des Generalstabs auf seine Friedens-Linie festzulegen. Doch der Gene
Ploetz, Volksausgabe, Seite 387
ralstabschef Graf Moltke, der hier ohne Weisung seines Kaisers handelt, schätzt die Entscheidungen am Zarenhofe richtig ein. Daß die Zuspitzung zwischen Österreich und Rußland an diesem 30. Juli ohne das Drängen Moltkes bei Hötzendorf unterblieben wäre, ist im nachherein weder zu beweisen noch zu widerlegen. Die Würfel für den Krieg sind am Hof des Zaren politisch offensichtlich schon gefallen.
Mit dieser am 1. August 1914 so plötzlich eingetretenen Entwicklung steht Deutschland unversehens vor der Gefahr, zwischen zwei Fronten zu geraten. Die zwei großen Nachbarn im Osten und im Westen sind seit 1894 vertraglich gegen das Deutsche Reich verbunden. Ein Krieg nach zwei Seiten ist für Deutschland eine existentielle Bedrohung, zumal da Deutschland zu der Zeit noch immer nicht mobilgemacht hat. Die Reichsregierung fragt deshalb noch am 31. Juli in Paris an, wie Frankreich gedächte, sich in einer russisch-deutschen Auseinandersetzung zu verhalten. Die französische Regierung hält die deutsche hin und antwortet vieldeutig: „man werde den französischen Interessen entsprechend handeln" 46 . Das kann Frieden heißen oder Krieg um Elsaß-Lothringen. Paris weicht dem offenkundigen deutschen Wunsch nach weiterem Frieden zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich aus und bereitet sich statt dessen auf den Krieg mit Deutschland vor. Die französische Regierung ordnet am 1. August die Mobilmachung der Streitkräfte an.
Deutschland hängt nun schon vier Tage hinter der Teilmobilmachung und drei Tage hinter der Generalmobilmachung in Rußland her. Die Zeit wird knapp. Die Tage, in denen der Kaiser und die Reichsregierung versucht haben, zwischen Habsburg und Rußland zu vermitteln, fehlen nun für die eigenen Vorbereitungen auf einen Krieg. Das Deutsche Reich kann sich ein weiteres Warten nicht erlauben. Nach Eingang der schlechten Nachricht aus Paris, daß Frankreich nicht zusagt, neutral zu bleiben und nach dem Bekanntwerden der französischen Generalmobilmachung am 1. August verkündet auch die Reichsregierung die Mobilmachung der deutschen Truppen. Deutschland hat nicht die Kräfte, gegen Rußland und Frankreich zur gleichen Zeit zu kämpfen. Es kann das vor allem nicht aus der Defensive gegen zwei zusammen zahlenmäßig überlegene Gegner. Es kann nicht warten, bis der eine Feind „von vorne" und der andere Feind „von hinten" kommt. Derart in der Zange bleibt den Deutschen nur der Ausweg, den zwei Gegnern zuvorzukommen und sie nacheinander anzugreifen und zu schlagen. Deutschland kann entweder zuerst alleine Rußland angreifen. Das würde – so schätzt man in Berlin – lange dauern und die derweil nur schwach besetzte Westgrenze der Gefahr eines französischen Angriffs aussetzen. Oder Deutschland kann zuerst versuchen, Frankreich zu besiegen, was man in relativ kurzer Zeit zu schaffen glaubt, und sich dann erst gegen Rußland wenden. So ist die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten vor dem Ersten Weltkrieg in
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