Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
er Blutungen oder so. Er lag wach. Hatte kein Fieber, nichts.
Er sah mich lange an, dann holte er eine kleine Pistole hervor.
›Hier ...‹
Er sprach Deutsch, ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich verstand ihn, soweit meine Schulkenntnisse eben reichten.
›Hier‹, sagte er, ›ich wollte euch töten, jetzt töte du mich.‹
Er meinte, weil wir ihn gerettet hätten. Ich konnte ihm doch nicht die Wahrheit sagen, dass er sterben würde ...
Als ich das Zimmer verließ, merkte ich, dass ich weinte ...«
Jekaterina Petrowna Schalygina , Krankenschwester
»Ich hatte Angst vor einer Begegnung ...
Als ich noch zur Schule ging, besuchten uns einmal deutsche Schüler. In Moskau. Wir gingen mit ihnen ins Theater, sangen zusammen. An einen deutschen Jungen erinnere ich mich sehr gut. Er konnte so schön singen. Wir freundeten uns an, ich verliebte mich sogar in ihn. Und den ganzen Krieg lang dachte ich: Was, wenn ich ihn treffe und wiedererkenne? Ist er etwa auch dabei? Ich bin sehr emotional, schon als Kind war ich schrecklich sensibel. Schrecklich!
Einmal ging ich übers Schlachtfeld, das Gefecht war gerade erst vorbei, und da glaubte ich, ihn unter den Toten zu erkennen. Nun, ein junger Bursche, der ihm sehr ähnlich sah ... Lag auf der umgepflügten Erde ... Ich habe lange vor ihm gestanden ...«
Maria Anatoljewna Flerowskaja , Politmitarbeiterin
»Neue Begriffe kamen auf: Erbarmen und Verzeihen ... Aber wie verzeihen? Wie vergessen? Die Tränen der Angehörigen verzeihen. Ihren Tod ...
Einer von unseren Soldaten ... Wie soll ich Ihnen das erklären? Er hatte von seiner Frau einen Brief bekommen, sie schrieb, alle seien tot. Alle seine Brüder. Seine Eltern. Er nahm seine MP und stürzte in ein deutsches Haus, gleich neben dem, in dem wir stationiert waren. Wir hörten Schreie ... Furchtbare Schreie ... Niemand konnte ihn stoppen ... Andere Soldaten liefen ihm nach, aber es war schon zu spät. Sie nahmen ihm die MP ab. Fesselten ihm die Hände ... Er weinte. Fluchte und weinte. ›Erlaubt mir, mich selbst zu erschießen.‹
Er wurde verhaftet ...«
A. S-wa , Flak-Soldatin
»Ich war achtzehn geworden ... Da kam der Brief: Im Kreiskomitee melden, Verpflegung für drei Tage mitnehmen, Wechselwäsche, einen Becher, einen Löffel. Mobilisierung zur Arbeitsfront.
Wir wurden in die Stadt Nowotroizk im Gebiet Orenburg gebracht. Wir arbeiteten im Werk. Der Frost war so streng, dass der Mantel im Zimmer gefror, er wurde steif wie ein Brett. Vier Jahre ohne Urlaub, ohne freie Tage.
Wir warteten und warteten, dass der Krieg endlich vorbei war. Eines Nachts um drei wurde es plötzlich laut im Wohnheim, der Direktor und die anderen Chefs waren da, und es hieß: ›Sieg!‹ Ich konnte nicht vom Bett aufstehen, die anderen wollten mir helfen, aber ich fiel immer wieder um. Den ganzen Tag konnte ich nicht aufstehen. Das muss die Freude gewesen sein. Als ich am nächsten Morgen auf die Straße ging, hätte ich am liebsten jeden umarmt und geküsst ...«
Xenija Klimentjewna Belko ,Soldatin der Arbeitsfront
»Sieg – was für ein schönes Wort ...
Der Sieg ... Meine Freundinnen fragten: ›Was willst du werden?‹ Wir hatten ja so viel gehungert. Wir redeten immer davon, uns wenigstens einmal satt essen zu können. Ich hatte einen Traum – von meinem ersten Lohn nach dem Krieg wollte ich mir eine ganze Kiste Gebäck kaufen. Was ich nach dem Krieg werden wollte? Koch natürlich! Ich arbeite noch heute in der Gastronomie ...
Die zweite Frage war: ›Wann willst du heiraten?‹ So schnell wie möglich ... Ich träumte vom Küssen. Ich wollte so gern küssen. Bitte lachen Sie nicht ... Und singen wollte ich. Singen! Na bitte – Sie lächeln ... Aber ich singe so gern ...«
Jelena Pawlowna Schalowa ,
Komsomolsekretärin eines Schützenbataillons
»Ich hatte schießen gelernt ...
Aber in den drei Jahren ... Im Krieg hatte ich sämtliche Grammatikregeln vergessen. Den ganzen Schulstoff. Ich konnte eine MP mit verbundenen Augen auseinandernehmen, aber bei der Aufnahmeprüfung fürs Studium machte ich im Aufsatz lauter Kinderfehler und fast kein einziges Komma. Meine Rettung waren meine Kriegsauszeichnungen.
Beim Studium erfuhr ich erneut, was menschliche Güte ist. Nachts litt ich unter Albträumen: SS -Leute, Hundegebell, die Schreie von Sterbenden. Menschen, die zur Erschießung geführt werden ... Die Angst in den Augen, die Angst der letzten Minute ... Und eine solche Verzweiflung! Das verfolgte mich ...
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