Melli - einmal blinzeln und von vorn
Kapitel 1
A temlos. Verzückt. Träumerisch. So in etwa erschienen Melli die Gesichter der Menschen, die gemeinsam mit ihr in dem festlichen Raum des Standesamtes saÃen. Einige Augenpaare schimmerten sogar verdächtig feucht oder waren rot unterlaufen wie nach einer kräftigen Heulattacke. Eigentlich kein Wunder. SchlieÃlich befanden sie sich ja auf einer Hochzeit, da waren Tränen durchaus üblich.
Missmutig lieà Melli ihren Blick schweifen. Bestimmt war sie die Einzige, die aussah, als hätte sie den Mund voller Ameisen. Nicht, weil sie Heiraten im Allgemeinen blöd oder peinlich fand. Wenn Melli ehrlich war, hatte sie sich heute früh von der gleichen Vorfreude anstecken lassen, die ihren Zwillingscousinen Lora und Pia seit Wochen fiebrige Wangen bescherte. Zugegeben, ein ganz kleines bisschen hatte sie sich auch auf das groÃe Fest gefreut, das schöne Kleid, in dem sie mindestens drei Jahre älter aussah, und die neuen Schuhe mit beachtlichem Absatz â endlich mal welche für richtige Mädels, keine praktischen Sneaker oder klumpigen Stiefel. Mindestens eine Stunde hatten sie und die Zwillinge Lora und Pia benötigt, um ihr neu gekauftes Make-up aufzutragen. Zuerst war es zu grell geworden â Pia hatte ausgesehen wie eine brasilianische Samba-Tänzerin â, dann als hätten sie sich zum Schlafengehen abgeschminkt, aber jetzt â das hoffte Melli zumindest â wirkte es genau richtig.
Nein, das alles war es also nicht. Melli hatte nur ein Problem mit dieser einen, ganz speziellen Hochzeit, die heute hier stattfand und sich in dieser Minute ihrem Höhepunkt näherte. Genau genommen hatte sie ein Problem mit der Braut. Die war nämlich ihre Mutter und Mellis Ansicht nach war es absolut überflüssig und völlig daneben, dass ihre Mutter heiratete. Mehr als zwölf Jahre hatten sie es jetzt gemeinsam ohne Mann ausgehalten und waren höchst zufrieden gewesen. Sie hatten ja sich. Warum sollte man diesen Zustand ändern?
»⦠ist es nicht wunderbar, dass sich diese beiden Menschen gefunden haben, über die Ozeane hinweg â¦Â«, tönte der Standesbeamte.
Blablabla, dachte Melli, kaute auf ihrem Kaugummi herum und betrachtete ihre lackierten Fingernägel. Gut sah die neue violettgoldglänzende Farbe aus. Ne, unter Wundern stellte sie sich etwas anderes vor. Egal ob ein Ozean oder ein Weltall dazwischenlag, wirklich wunderbar wäre es gewesen, Adrian, der neue Mann, wäre ihrer Mutter nie begegnet und alles würde weitergehen wie bisher. Als ob es auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans nicht Millionen von Frauen gäbe, aus denen sich Adrian eine hätte aussuchen können. Nein, ausgerechnet hier musste er zuschlagen! Sie schaute sich unauffällig um. Es war geradezu unheimlich still in dem festlichen Trausaal. Bis auf die Stimme des Standesbeamten, das Summen einer aufdringlichen Fliege und das Rauschen der Bäume, das durch die geöffneten Fenster drang, war nichts zu hören. Da! Ertappt. Dorothea, Mellis GroÃmutter, zeigte ebenfalls keine Begeisterung. Melli hätte fast gekichert, als sie Oma Doros fest zusammengepressten Mund betrachtete, bei dem man die Altersfalten nun ganz deutlich sehen konnte. Ihre Oma teilte Mellis Unmut. Das hatte sie in den vergangenen Wochen deutlich gemacht. So deutlich, wie sich das nur Oma Doro leisten konnte. Melli blinzelte ihr unauffällig zu. Keine Reaktion. Oma Doro hatte sich im Griff, aber dann entspannte sich ihr Mund ein wenig und deutete ein winziges Lächeln an. Dafür zappelte Lora an Mellis Seite wie ein junger Hund. Die konnte es kaum erwarten, dass die Ringe getauscht wurden. Für sie war es schon eine Enttäuschung, dass die erste Hochzeit, auf der sie dabei sein durfte, nur im Standesamt und nicht mit Pomp und Gloria in einer festlich geschmückten Kirche stattfand. Mit weiÃem Brautkleid und SträuÃchen â das wollte allerdings Pia auffangen, weil sie keinesfalls beabsichtigte, erst in so greisem Alter zu heiraten wie Mellis Mutter Pam. Melli schob sich verstohlen einen neuen Zimtkaugummi in den Mund. Bloà nicht rascheln. Als Melli und Lora vorhin aufgeregt miteinander geflüstert hatten, wurden sie von allen Seiten mit strengen Blicken bestraft. Besonders Oma Doro hatte böse geguckt, aber das tat sie ja sowieso schon die ganze Zeit. Der entging gar nichts. Sie hatte Augen wie ein WeiÃkopfadler, genau so
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