Der Kruzifix-Killer
aufregend genug?«, fragte Garcia ironisch.
»FBI-Profiler machen keine Einsätze. Sie sitzen die meiste Zeit hinter einem Schreibtisch oder in einem Büro. Das war jedenfalls nicht die Art von Aufregung, die ich mir vorgestellt hatte. Außerdem hatte ich keine Lust, mein bisschen geistige Gesundheit aufs Spiel zu setzen.«
»Was soll das heißen?«
»Ich glaube nicht, dass ein normaler Mensch es verkraften kann, in unserer heutigen Gesellschaft als Kriminalpsychologe und Profiler zu arbeiten, ohne psychischen Schaden zu nehmen. Wer sich entschließt, sich einer solchen Belastung auszusetzen, der zahlt unweigerlich den Preis dafür, und dieser Preis ist mir zu hoch.«
Garcia schaute noch immer fragend.
»Sieh mal, es gibt zwei Schulen, zwei grundsätzliche Theorien zur Psychologie des Bösen. Einige Psychologen glauben, das Böse sei in bestimmten Individuen angelegt, etwas, womit man geboren wird, wie eine Fehlfunktion des Gehirns, die dazu führt, dass diese Individuen bestialische Grausamkeiten begehen.«
»Also so, als wäre es eine Krankheit?«, fragte Garcia nach.
»Genau«, bestätigte Hunter und fuhr fort. »Andere wiederum glauben, dass die Erfahrungen und Umstände der Lebensgeschichte eines Menschen diesen dazu bringen, sich von einem zivilisierten Individuum mit normalem Sozialverhalten zu einem Psychopathen zu entwickeln. Anders ausgedrückt: Wenn man als Kind oder junger Mensch Gewalt ausgesetzt war, missbraucht oder misshandelt wurde, dann ist es gut möglich, dass man als Erwachsener selbst zu einer gewalttätigen Person wird. Kannst du mir folgen?«
Garcia nickte und lehnte sich zurück.
»Okay, also verkürzt gesagt, besteht der Job eines Profilers darin, nachzuvollziehen, warum ein Krimineller so handelt, wie er handelt, was ihn antreibt, wie er tickt. Profiler versuchen praktisch, so zu denken und zu handeln, wie es der Kriminelle tun würde.«
»Also, so viel war mir bisher auch klar.«
»Okay. Wenn also der Profiler in der Lage ist, wie ein Krimineller zu denken, dann hat er vielleicht eine Chance, den nächsten Schritt des Kriminellen vorherzusehen. Allerdings schafft er das nur, wenn er sich tief in die vermuteten Lebensumstände des Kriminellen hineinversenkt.« Er trank von seinem Bier. »Lassen wir mal die erste Theorie beiseite, denn wenn das Böse so was wie eine angeborene Krankheit ist, dann können wir sowieso nichts tun. Wir können auch nicht in der Zeit zurückreisen und die von Gewalt oder Missbrauch geprägte Kindheit eines Täters reproduzieren. Also bleibt einem nur das gegenwärtige Leben des Täters, und hier setzt der erste Schritt auf dem Weg zu einem Täterprofil an. Wir versuchen zu erraten, wie sein Leben momentan aussehen könnte. Wo er wohnen würde, was für Orte ihn anziehen, was er so alles machen könnte.«
»Erraten?«, fragte Garcia ungläubig.
»Darum geht’s beim Profiling – mehr steckt nicht dahinter. Eine möglichst plausible Mutmaßung auf der Basis der am Tatort vorgefundenen Beweise und Indizien. Das Problem ist nun: Wenn man sich lange genug in die Fußstapfen geistesgestörter Krimineller begibt, versucht, wie sie zu denken und zu handeln, sich derart tief in die finsteren Abgründe ihres Denkens begibt, dann hinterlässt das unweigerlich Spuren … mentale Narben. Und manchmal verliert man als Profiler selbst die Linie aus den Augen.«
»Welche Linie?«
»Die Trennlinie, die uns davor bewahrt, so zu werden wie die.« Hunter wandte für einen Moment den Blick ab. Als er weitersprach, klang seine Stimme traurig. »Es gab Fälle … in denen Profiler sadistische sexuelle Gewalttaten untersucht haben und dabei selbst ganz besessen wurden von sadistischem Sex, oder sie gingen genau in die entgegengesetzte Richtung und waren auf einmal sexuell blockiert – schon bei dem bloßen Gedanken an Sex wurde ihnen übel. Andere haben an brutalen Mordfällen gearbeitet und wurden selbst gewalttätig. Vereinzelt ging es sogar so weit, dass die Profiler selbst brutale Verbrechen begingen. Das menschliche Gehirn ist uns immer noch in großen Teilen ein Rätsel, und wenn wir es nur lange genug misshandeln …« Hunter brauchte den Satz nicht zu beenden. »Also habe ich mich entschlossen, mein Gehirn lieber auf andere Weise zu misshandeln, nämlich indem ich Detective bei der Mordkommission wurde.« Er grinste und trank seinen letzten Schluck Bier aus.
»Ja, und da kannst du dich über Misshandlung auch nicht beklagen.« Sie lachten beide.
Eine
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