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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Er konnte sich Randolph nicht vorstellen, ohne dabei ein Hackebeil in seiner Hand zu sehen, das die Knochen toter Tiere zertrennte, wumm, wumm, wumm, wumm. Metzger waren immer solche fröhlichen, strahlenden Leute, die vor aller Augen blutnasses Fleisch auf die Digitalwaage hievten, während man sich in Erwartung des Abendessens die Lippen leckte.
    Auch wenn Randolph eigentlich Vegetarier war. Eines Wochenendes, als Elkanah da war, kam er zum Mittagessen. Der Tag war sonnig und blau, und sie saßen hinten im Garten, unter einem riesigen grün-weiß gestreiften Sonnenschirm. So musste es sich im Bauch eines Wals anfühlen, überlegte Samuel, so kühl und beschützt. Er saß zwischen Theodora und Hannah auf der Gartenbank, Elkanah und Randolph hatten die Plätze gegenüber.
    Sie tranken eine Flasche portugiesischen Rosé, die Randolph mitgebracht hatte, mit einem Bildchen vom gestiefelten Kater auf dem Etikett. Elkanah kochte Spaghetti – sie waren ganz besonders lecker und Randolph war zutiefst beeindruckt, zumindest behauptete er das wieder und wieder. So fand Theodora heraus, dass Randolph Vegetarier war – Hannah hatte Elkanah darum gebeten, nicht wie sonst Hackfleisch zu verwenden, weil Randolph es nicht essen konnte.
    Fasziniert beobachtete Theodora die beiden Männer beim Essen: der eine so borstig, der andere fast kahl; wie Jakob und Esau. Die Soße aus Tomaten und Basilikum tropfte in Elkanahs Bart; Randolphs glatte Haut glänzte im Sonnenlicht.
    »Also, wie geht es 1997 mit Hongkong weiter, sobald es in die politische Unabhängigkeit entlassen worden ist?«, fragte Elkanah, der die Unterhaltung sorgsam an der Oberfläche hielt.
    Randolph war in Hongkong zur Welt gekommen, man konnte also davon ausgehen, dass er dazu eine Meinung haben würde. Leider gehörte Randolph aber zu den Menschen, für die die Vergangenheit bereits vom einen auf den anderen Tag verblasst und für die die Zukunft so unwirklich und uninteressant ist wie eine Star Trek- Episode, weshalb das Thema Hongkong rasch versickerte. Also versuchten sie sich stattdessen über den Garten und verschiedene Arten von Blumenerde zu unterhalten.
    Nach dem Essen gingen Samuel und Theodora ins Haus, um sich ein Video anzusehen.
    »Ich finde sie ganz hübsch«, bemerkte Theodora, als sie sich auf ein paar Kissen zurechtsetzten, um Der Prinz und der Bettelknabe zu schauen.
    »Halt die Klappe«, sagte Samuel. »Ich will zuhören.«
    Am folgenden Wochenende übernachteten Samuel und Theodora bei ihrem Großvater, und Theodora erzählte Elias alles über Randolph Butcher – jedenfalls alles, was sie wusste. Elias runzelte die Stirn. Aber er sagte bloß: »Lass uns die Salatgurken schnippeln.«
    Theodora trug das in ihr Notizbuch ein und zerbrach sich den Kopf darüber. Manchmal dauerte es sehr lange, bis sich ein Muster abzuzeichnen begann.
    Sie saßen auf dem Balkon und aßen zu Abend, im Dunkeln, wenn man vom Licht der zwei Kerzen auf der Anrichte absah, die Elias jeden Freitagabend anzündete, wenn seine Enkel ihn besuchten.
    »Ich habe ihn kennengelernt, wisst ihr«, sagte Elias unerwartet, während er ein hart gekochtes Ei zerkaute. Obwohl Elias, genau wie Randolph Butcher, Vegetarier war, bereitete er für die Kinder regelmäßig Fleisch zu – dicke, saftige Scheiben. »Randolph Butcher.«
    »Oh!« Theodora war überrascht. Samuel schluckte.
    »Sie hat ihn irgendwann nachmittags mitgebracht, damit er meinen Entsafter repariert«, erklärte Elias.
    Hannah und Elkanah hatten Elias vergangenes Jahr einen Entsafter zum Geburtstag geschenkt.
    »Ich wusste gar nicht, dass er kaputt war«, sagte Samuel, nur um in die Unterhaltung eingeschlossen zu sein, aber ihm war vom Magen bis in die Kehle hinein speiübel.
    »War er eigentlich auch nicht«, hüstelte Elias. »Ich hab ihr gesagt, dass ich ihn nicht benutzen würde, weil er so schwer zu reinigen ist, und außerdem trinke ich ja nicht so oft Saft.«
    »Was hast du also gemacht?«, fragte Theodora gefesselt. Es war genau die Art von Situation, in die sie sich auch selber begeben hätte. Von Elias hätte sie so etwas nie erwartet.
    »Wir taten alle so, als wäre es ein Wunder, dass das Teil funktionierte«, sagte Elias trocken, »auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass wir alle wussten, um was es eigentlich ging.«
    Um was es eigentlich ging. Was für schreckliche Worte. Elias, der Samuels Unruhe spürte, drückte ihm die Hand.
    »Es ist so still hier«, flüsterte Samuel.
    Samuel betrachtete die Wohnung

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