Der Küss des schwarzen Falken
ihren Gedanken hoch, als Tom sie ansprach, und musste dann feststellen, dass sie der Unterhaltung gar nicht mehr gefolgt war.
“Du weißt doch, die Benefizveranstaltung, die Mom und Dad für die Stiftung geben wollen …”
“Was ist damit?”
Tom warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Ich weiß alles, sagte dieser Blick. Das würde eine lange Heimfahrt mit Tom werden.
“Mom meinte, es würde dich interessieren, dass wir von Bradshaw nun doch eine Absage bekommen haben.”
“Schon wieder? Und ich dachte, beim dritten Mal klappt es bestimmt.” Sie seufzte resigniert. Aber irgendwie hatte sie geahnt, dass dieser Mann wieder nicht kommen würde.
Bradshaw war einer der reichsten Rancher des Landes und obendrein einer der mysteriösesten Vertreter der High Society von Dallas. Die tollsten Gerüchte kursierten über diesen Mann, den kaum jemand jemals persönlich zu Gesicht bekam. Manche behaupteten, er sei entstellt und meide deshalb die Öffentlichkeit. Ein anderer, weitaus romantischerer Erklärungsversuch war der, dass er, seitdem er seine geliebte junge Frau verloren hatte, das Haus nicht mehr verließ. Die Angaben über sein Alter schwankten zwischen fünfundzwanzig und zweiundsiebzig. Schon zweimal hatte Grace versucht, ihn für eine der Abendgesellschaften zu gewinnen, die sie für die Stiftung veranstaltete. Doch jedes Mal kam eine Absage, einen Tag später allerdings auch ein beeindruckender Spendenscheck. Trotzdem hatte sie sich weiterhin bemüht. Denn sie wusste, dass sein Erscheinen und sein Bild in den Medien in Verbindung mit der Stiftung eine enorme Publicity entfalten würden.
Grace zuckte die Achseln. “Versuch ich’s eben das nächste Mal wieder.”
“Dylan Bradshaw?”, schaltete sich Rand in das Gespräch ein. “Bradshaw von der Rocking-B-Ranch?”
Alle Köpfe drehten sich zu ihm. Selbst der alte Marty, den so leicht nichts aus der Fassung brachte, sah Rand mit offenem Mund an.
“Du kennst ihn?”, fragte Grace.
Rand füllte seelenruhig seinen Teller nach. “Ja, ich kenne ihn.”
“Sie meinen, Sie haben ihn wirklich schon mal getroffen?”, wollte Tom wissen.
“Sonst würde ich ihn wohl kaum kennen”, erwiderte Rand. “Wir haben früher mal eine Weile zusammengearbeitet.”
Ist das Größenwahn, überlegte Grace, oder stimmt es tatsächlich? Er hatte nicht gesagt: Ich habe für ihn gearbeitet, sondern: Wir haben zusammengearbeitet. Am liebsten hätte sie ihn auf der Stelle gefragt, wann und wo und wie es dazu gekommen sei. Aber da Rand das sicher nicht gefallen würde, hielt sie sich zurück.
“Prima”, meinte Tom mit einem spöttischen Grinsen. “Rufen Sie ihn doch einfach an und fragen ihn, ob er nicht doch vorbeikommen will.”
“Ich kann es mir ja mal überlegen”, gab Rand trocken zurück.
Toms Grinsen erstarrte. Marty hatte aufgehört zu kauen. Grace fand das ungläubige und gleichzeitig ehrfürchtige Staunen auf den Gesichtern der beiden ausgesprochen komisch. Aber im Augenblick war es ihr nicht so wichtig, ob dieser geheimnisvolle Mr Bradshaw nun herangeschafft werden konnte oder nicht. Der Einzige, um den ihre Gedanken gegenwärtig kreisten, war Rand.
Wären Tom und Marty etwas später gekommen, hätten sie noch einmal, ein letztes Mal miteinander schlafen können. Jetzt war es dafür zu spät. Sie dachte an die Berührung seiner rauen Hände auf ihrer Haut, an seine Lippen, an ihre Erregung, an ihre Leidenschaft. Doch die wenigen Stunden, die sie für sich gehabt hatten, konnte ihr wenigstens niemand mehr nehmen.
Schweigend betrachtete sie Rands Gesicht, während er mit Tom und Marty sprach, beobachtete den Wechsel seines Mienenspiels, wenn er ernsthaft mit Tom diskutierte, oder wenn Marty eine seiner skurrilen Geschichten erzählte.
Es war ein schöner Abend. Die untergehende Sonne malte goldene und rote Streifen an den Horizont. In der Nähe hörte man das sanfte Schnauben der Pferde, weiter weg das Murmeln des Baches. Sie sprachen und lachten zusammen. Marty hatte Feuer gemacht, und die trockenen Äste knackten in den Flammen. Es hätte ein wunderbarer Abend sein können, wäre es nicht der Abend vor dem Morgen gewesen, an dem der Mann, den sie liebte, aus ihrem Leben verschwinden würde.
Um sich abzulenken, erklärte sich Grace bereit, das Geschirr abzuwaschen, nachdem sie mit Essen fertig waren. Rand und Tom versorgten die Pferde für die Nacht. Marty bereitete den Hänger vor, in dem die Mustangs am nächsten Tag transportiert werden sollten.
Die
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