Der Kunstreiter
dem Rücken, keine Sorgen, keinen Kummer ahnten, wieviel das Schicksal auch vielleicht schon für sie bereit hielt. Er dachte der eigenen Jugendzeit, dachte der frohen Jahre, die auch er durchlebt, und seufzte nur eigentlich darüber, daß er an frohe Jahre stets so weit zurückdenken mußte, wenn er sich ihrer freuen wollte.
Auch die Knechte kehrten von ihrer Arbeit heim, denn die Pferde mußten zwei Stunden Ruhe haben. Vom Gute waren drei Geschirre unten am See beschäftigt gewesen, bei dem jetzigen Frostwetter Schlamm herauszuschaffen und auf die Wiesen zu fahren. Die Geschirre hatten sie unten stehen lassen und ritten nun auf den Sattelpferden, die Handpferde führend, in den Hof zurück, quer über die gefrorene Wiese hinüber, den nächsten Weg einschlagend.
Auf der Straße kam die Erzieherin mit Josefine herunter; sie hatten einen kleinen Spaziergang gemacht, dem aus der Schule kommenden Karl entgegen zu gehen, und der Hauslehrer begleitete sie, um seinen Schüler gleich in Empfang zu nehmen. Karl hatte sich in der letzten Zeit besonders wild und ausgelassen gezeigt, und der Hauslehrer, ein junger Kandidat der Theologie, wußte aus eigener Erfahrung, wie es die jungen Burschen gerade an einem Samstagmittag gewöhnlich ausgelassen treiben; es war deshalb besser, ihm beizeiten einen Zügel anzulegen.
Der alte Mühler hatte seinen Neffen schon im Dorfe selber unter dem Schwarm der übrigen herausgelesen, sich aber keineswegs Mühe gegeben, den Übermut der kleinen fröhlichen Bande zu zähmen. Selber äußerst guter Laune, stieß er, wie er mitten unter die Knaben kam, einen eigentümlich schrillen Schrei aus und sammelte dadurch im Nu den ganzen Schwarm um sich.
»Hallo, ihr Kerle!« rief er jetzt, »gebt Frieden, macht nicht solch einen Heidenspektakel, daß man seine eigenen Worte nicht hören kann! Heda, was seid ihr für ungeschickte Jungen!« wandte er sich plötzlich an zwei, die übereinander wegzuspringen suchten, »komm einmal her – so müßt ihr's machen!«
»Hurra, der Schwiegervater will springen!« riefen einige der größeren Jungen und drängten sich rasch herbei, und der alte Mühler machte in der Tat, von dem Branntwein aufgeregt, Anstalt, ihnen eine seiner Künste zum besten zu geben, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit plötzlich ablenkte.
»Dort! dort! da geht ein Pferd durch!« schrie der eine der Knaben, und als alle nach der angedeuteten Richtung blickten, sahen sie, wie eins der herrschaftlichen Pferde, das sich losgerissen hatte, in voller Flucht über die Wiese nach der Straße zu kam und quer darüber hin wollte.
»Nimm meinen Ranzen, Onkel!« schrie da Karl, der, ohne ein Wort weiter zu sagen, seinen Ranzen und seine Mütze zu Boden warf und, ehe nur jemand eine Ahnung hatte, was er wollte, dem durchgehenden Pferde entgegenflog.
»Karl! Teufelsjunge!« schrie der Alte hinter ihm drein, aber Karl hörte ihn schon nicht mehr. Mit einer Schnelle, die seine Mitschüler besonders in Erstaunen setzte, flog er mehr als er lief, über die hartgefrorene Straße hin und traf gerade dort mit dem wenig seiner achtenden Pferde zusammen, als dieses über den Chausseegraben setzte. Im Nu aber war er an seiner Seite – die linke Hand krallte in seine Mähne, die rechte stemmte er gegen die Schulter des Tieres und, halb im Sprunge, halb von dem bäumenden Pferde emporgerissen, saß er schon auf dessen Rücken, wie es eben an der andern Seite wieder heraus über die Wiese setzte, um dem Walde zuzustürmen.
Der kleine wilde Reiter machte ihm aber bald begreiflich, daß es nicht länger sein eigener Herr sei, sondern folgen müsse, wohin er es lenkte. Kaum auf seinem Rücken, auf dem er sich vollkommen zu Hause fühlte, griff er, mit dem rechten Beine sich einklammernd, nachdem heruntergefallenen Zügel, brachte ihn dem Pferde über den Kopf und hatte es, ehe es kaum zweihundert Schritte weiter geflogen war, wieder völlig im Zaum und in seiner Gewalt. Zu gleicher Zeit spielte unter der Schuljugend ein anderes Intermezzo, das die kleine Schar kaum weniger belustigte und in Erstaunen setzte als der tollkühne Reitersprung ihres Kameraden.
Der alte Mühler nämlich hatte, statt Ranzen und Mütze seines Neffen aufzuheben, mit halb zusammengeducktem Körper, beide Hände auf die Knie gestützt, den Kopf etwas zurückgebogen, die Augenbrauen bis in die Haare hineingezerrt, Mund und Augen weit geöffnet, ihm nachgeschaut. Kaum aber sah er, daß der Sprung gelungen war, sah, daß sein Karl sich
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